Produktion: Deutschlandradio 2005

Sprecher: Otto Mellies, Alexander Khuon
Ton: Thomas Monnerjahn
Regie: Johanna Elbauer

Mathias Goeritz

Mathias Goeritz ist ein in Deutschland zu Unrecht vergessener Protagonist der Nachkriegsmoderne. Das könnte kaum deutlicher werden als durch die umfassende Retrospektive anlässlich seines 100. Geburtstages in Madrid. Zwar hat Goeritz als Architekt und Bildhauer in Deutschland niemals gebaut oder eine öffentliche Skulptur realisiert; nach seiner Emigration nach Mexiko 1949 hat er im übrigen eine Rückkehr offenkundig sorgsam vermieden. Aber angesichts dieser Ausstellung in der „Reina Sofia“ erweist sich das Desinteresse als institutionelle Verlängerung des Exils. Viele Karrieren der Nachkriegsmoderne wurden nach 1990 in Deutschland einer Neubewertung unterzogen. Jene von Mathias Goeritz gehört selbstverständlich ebenfalls wiederentdeckt.

Im Berlin der Weimarer Republik hat der 1915 in Danzig geborene Goeritz seine Ausbildung und im Kreis eines eher transzendental angelegten Expressionismus (Barlach, Haeckel) die ersten Schritte seiner künstlerischen Sozialisation gemacht. Das mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus aus Deutschland vertriebene Erbe der Avantgarde hat er seit den frühen vierziger Jahren gleichsam mitgenommen auf seine Reisen, zu denen er sich aufgrund seines jüdischen Familienhintergrundes gezwungen sah. Marokko, das damals unter deutschem Protektorat stand, diente ihm für einige Jahre als Fluchtort, hier lebte er als Lehrer, ehe er sich in Spanien der Malerei zuwandte und zum Mitbegründer der Schule von Altamira wurde, die sich dem künstlerischen Widerstand gegen die franquistische Kulturpolitik verschrieben hatte.

Mutmaßlich auch in Folge dieses Engagements galt Goeritz in Spanien schließlich offenbar als Kommunist. Seine Aufenthaltserlaubnis wurde nicht verlängert. Deshalb siedelte er 1949 nach Mexiko über und etablierte sich dort innerhalb weniger Jahre als abstrakter Bildhauer, Architekt, Theoretiker und vor allem als großer Kommunikator und Anstifter von interdisziplinären, kooperativen Großprojekten. Die Durchsetzung der Abstraktion war in Mexiko indes, ähnlich wie in Westdeutschland, ein bürgerliches, im Grunde konservatives Projekt. Es richtete sich gegen eine figürliche Kunst, die die politische Ikonographie der Linken bereitstellte. Goeritz‘, der aus Spanien emigrierte vermeintliche Kommunist, wurde in Mexico also ironischerweise vom konservativen Establishment gefördert und er im Gegenzug zu einer Reizfigur der mexikanischen Linken, die ihn fortan anzuschwärzen versuchte und ihn wegen seiner Lehrtätigkeit in Marokko der Kollaboration mit den Nazis verdächtigte.

Goeritz‘ politische Selbstverortung erscheint dabei weniger explizit. Aus seinem Werk, insbesondere den Arbeiten für sein „Jerusalem-Labyrinth“ in den siebziger Jahren, lässt sich herauslesen, dass ihn die Erschütterung durch die Shoah weitaus stärker umgetrieben hat als der Wunsch nach politischen Bekenntnissen. Das gilt womöglich ohnehin für das ganze Konzept der „Emotionellen Architektur“, zu deren theoretischen Urhebern er in Mexiko zählte. Dieses Konzept zielte auf die metaphysische Dynamik eines skulptural-multidisziplinären Ansatzes von performativer Räumlichkeit. Ein für die damalige Zeit nicht unbedeutender Nebeneffekt dürfte darin bestanden haben, dass Architektur damit einer konkreten politischen Zuordnung entzogen wurde. Im Grundsatz bleiben freilich seine Entwürfe zunächst offenkundig das Werk bürgerlicher „Weltkunst“.

In der Chronologie seiner Entwicklung ist zu sehen, wie Goeritz in den Entwürfen für seine vielleicht bekannteste Arbeit, die abstrakte, vielfach gezackte Großskulptur „Ataque o La Serpiente“ für das experimentell-kollaborative Museumsprojekt „El Eco“ von 1953 Motive einer erst Jahrzehnte später geläufigen Erinnerungsarchitektur vorwegzunehmen scheint. Denkt man sich etwa diese Entwürfe zusammen mit seinen nur wenige Jahre später gemeinsam mit Luis Barragán realisierten „Türmen für eine Satellitenstadt“, drängen sich unausweichlich Parallelen zu Daniel Libeskinds Entwürfen zur „Line of Fire“ (1986) und „Between the Lines“ (1989) auf, auf denen die Planung für das Jüdischen Museum in Berlin basiert. Vergleiche mit Libeskinds skulptural gedachter Architektur erscheinen um so näher zu liegen, als Goeritz das in seinem Werk stets wiederkehrende, als abstrakte Skulptur gedachte Turm- und Hausmotiv explizit für sein zwischen 1972 und 1980 entwickeltes „Jerusalem-Labyrinth“ konzipierte, also auch als Markierung eines Shoah-Gedenkortes. Schließt sich also mit dem Jüdischen Museum Berlin ein Themenkreis, der von Libeskind bislang nicht erwähnt wurde, der die jüdische Geschichte Berlins vor und nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch ebenso berührt?

In der Madrider Ausstellung wird das „Labyrinth“ völlig zu Recht als ein Schlüsselwerk nicht nur zum Verständnis der „Emotionellen Architektur“, sondern auch für Goeritz‘ Rolle innerhalb der Nachkriegsmoderne gezeigt. Das Prinzip der funktionalen Form wird zugunsten der expressiven Öffnung einer „inneren Erfahrungslandschaft“ des Betrachters aufgebrochen. Kurator Francisco Reyes Palma erwähnt zwar nicht die Parallelen zu späteren Werken von Libeskind, Dani Karavan oder Micha Ulman, dafür andere, nicht weniger offensichtliche Korrespondenzen mit Yves Klein, Lucio Fontana, Otto Piene und der ZERO-Bewegung oder auch Piero Manzoni. Sie alle scheinen von einer ähnlichen Idee getrieben, von einer Ästhetik des Unsichtbaren (oder noch nicht sichtbaren), die zwar ein uravantgardistischer Topos ist, der allerdings immer wieder auch auch etwa in Libeskinds räumlichen Erinnerungskonzepten zitiert wird (so im Motiv der „Voids“ des Jüdischen Museums).

Goeritz‘ Jerusalemer „Labyrinth“ indes geht auf seine zeichnerischen Vergegenwärtigungen der NS-Vernichtungslager und ihrer Überwachungssysteme aus der Zeit um 1945 zurück. Georitz‘ Ideal schien eine kollektive, alle Jerusalemer Religionen einende Aneignung von Erfahrung durch die emotionale Einwirkung des Erinnerungsortes zu sein. Unausweichlich erscheint dies aus heutiger Sicht erst recht als eine politische Botschaft. Immerhin, damals wurde das „Labyrinth“ wurde gebaut

In Paris wurde Goeritz ebenfalls bereits gewürdigt, wohl wegen seiner Verbindungen nach Frankreich, insbesondere zu Klein und Fontana. Seine dortigen vermeintlichen Antagonisten des Nouveau Realisme fanden sich in dicht aufeinander folgenden Ausstellungen mit ihm in der Galerie von Iris Clert wieder. Solche Offenheit schien in Deutschland lange undenkbar. Umgekehrt hat Goeritz zu seinen Lebzeiten nie wieder den Kontakt nach Deutschland gesucht. Als Grund nannte er in Briefen die Shoah. Aber mittlerweile sollten hiesige Institutionen die Idiosynkrasien der fünfziger bis siebziger Jahre eigentlich überwunden haben, zumal Archivbestände zu Goeritz in der Berliner Akademie der Künste lagern.

Schon etwas heikel, die ganze Geschichte. Es gab Zeiten, da redeten wir viel. Ich redete damals mit niemandem. Mit Mona redete ich. Lauter ernsthafte Sachen. Philosophische Gedanken. Haargenau so war ich drauf, mit elf oder zwölf jedenfalls. Damals ging ich fast jeden zweiten Tag zu ihr. Meine Mutter machte sich Sorgen. Sie meinte, Mona hätte schlechten Einfluss auf mich. Mir war das ziemlich schnuppe. Neulich bin ich wieder mal in der Gegend gewesen. Seit einer Ewigkeit. Äußerlich hat sich wenig verändert. Die niedrigen alten Weberhäuser mit schmalen Vorgärten neben fünf- oder sechsstöckigen Mietshäusern. Die von Staub und Abgasen aufgerauten Fassaden. Das Kopfsteinpflaster wellt sich in der Mitte der Straße. Man läuft die Hauptstraße einen Kilometer vom Marktplatz, bis zur ehemaligen Wendeschleife der Straßenbahn. Die Straßenbahn gibt es nicht mehr. Die alten Gleise sind mit Teer ausgegossen. Dort parken jetzt Autos. Links das große wilhelminische Schulhaus, in dem schon meine Eltern und Großeltern zur Schule gegangen sind. Dahinter kommt gleich die Bahnlinie und das krautige Ufer des Flusses. Dahin verirrten wir uns nur selten. In die andere Richtung führen zwei Straßen parallel zum Park, und da ist es. Eine kleine, klar umgrenzte Zone, weder in der Stadt noch außerhalb. Mit diesem Kopfsteinpflaster und den eng stehenden Augen der alten Fenster. In der Erinnerung war mir die Gegend immer riesig vorgekommen. Eine ganze Welt. In Wirklichkeit sind es ein paar hundert Meter in jede Richtung. Einige Läden von damals gibt es noch immer. Als erstes die Kostas alte Kneipe. Ich dachte, mich trifft der heilige Schlag, als ich das Schild sah. Auf der Fensterscheibe pappte eine goldene 40 im Ährenkranz. Aber dieses Jubiläum muss auch schon ein Weilchen her sein. Damals gab es hier viele Griechen. Viele machten Kneipen auf. Gleich gegenüber der nächste. Kosta war immer der Neue, der letzte, der in diese Gegend gekommen war. Ich war bekannt bei allen, wie alle Jungen, die regelmäßig ihre Väter abholten. Ich könnte schwören, die geschlossenen Gardinen waren noch dieselben wie früher. Man konnte sie von unserem Wohnzimmer aus sehen. Sie waren immer zugezogen. Ich meine, welche Kneipe hat heute noch solche Gardinen. Ich näherte mich vorsichtig. Es war wie eine Attrappe meiner Kinderwelt. Aber drinnen saßen wirklich Leute. An der Fensterlaibung klebte eine alte Preisliste, mit handschriftlich eingetragenen Preisen. Tasse Bohnenkaffee eine Mark zehn. Tasse Kaffee Hag einszwanzig. Herrengedeck dreifünfundzwanzig. Draußen standen jetzt dicke BMW, Mercedes und Geländewagen, und hier hing noch diese Preisliste. Wenn mir das vorher jemand erzählt hätte. Wahrscheinlich hätte ich ihn ausgelacht. Andererseits, wer hätte es erzählen sollen? Wem wäre es das wert? Alle anderen sind tot oder haben es vergessen. Ich bin der einzige, der es erzählen könnte.

Irgendwie roch es sogar wie früher, aber da kann ich mich täuschen. Die Leute rauchten nicht mehr denselben Knaster wie damals. Reval, Juno, Camel ohne, RotHändle, das war einmal. Heute rauchen sie Lucky Strike oder rote Gauloises. Einer rauchte auch Bidis. Das Bier aber musste immer noch das gleiche sein wie früher. Wer schenkt bitte sehr heute noch Ratsherren aus! Die Beleuchtung, die Spielautomaten, inzwischen alles digital, aber auf alt gemacht. Hinter dem Tresen stand ein Typ im weißen Hemd und mit nass zurückgekämmten Haar. Um die fünfzig, denke ich. Nicht auszuschließen, dass das Kostas Sohn war. Wir waren nie befreundet, weil er etwas älter war. Ich konnte ihm nie das Wasser reichen damals, daran bestand nicht der leiseste Zweifel. Ich tat nichts, um zu seiner Gruppe zu gehören, die durch die Gegend zog und die Jüngeren vermöbelte. Mir war es schnuppe, wie das allermeiste. Der alte Kost behandelte mich wie ein Familienmitglied, aber das machte er mit allen. Wenn ich kam, um meinen Alten abzuholen, musste ich mich jedes Mal hinsetzen und eine Limo trinken. Eher durfte ich meinen Vater nicht mitnehmen. Die Hausherrin brachte postwendend eine kleine Flasche und ein Glas, unter Gesten mütterlicher Fürsorge. Sie trug einen geblümten Hauskittel, so einen, wie ihn damals die deutschen Hausfrauen anhatten. Meine Mutter eingeschlossen. Daran erinnere ich mich, als stünde sie vor mir. Als Griechin verlieh Kostas Frau dem Kittel jedenfalls eine ganz andere Ausstrahlung. Die Trinkgenossen meines Vaters wussten das nicht zu würdigen. Sie hoben ihre Gläser auf mich. Das war schon peinlich genug. Mein Vater saß immer mit denselben da. Der alte Buschhorn war immer dabei, Atsche Bök und ein Dicker, den alle Hänschen nannten. Über Hänschen regten sich alle auf, weil er immer endlose Reden hielt. Er besaß irgendwo einen Laden, vielleicht einen Zeitungsladen. Jedenfalls wusste er immer Bescheid, immer. Was glaubt er, wer er ist? hörte ich über ihn sagen. Hier solche Reden zu schwingen! Der soll sich nicht größer machen, als er ist! Das hörte man oft. Sich größer machen war lächerlich hier, wo alle klein waren. Ich könnte nicht beschwören, dass es immer dieselben Leute waren. Aber ich sehe sie noch vor mir, die Runde am Tisch. Ihre zwischen Jackenkragen und Mütze eingeklemmten Nackenwülste und die ausgeblichenen Haarsträhnen und verfaulten Zähne und schlechten Gebisse. Jeder strahlte sein höchstpersönliches Unglück aus, gegen das kein Kraut und kein Oldesloer Korn gewachsen war. Und mein Vater war einer von ihnen, und zugleich war er auch anders. Er redete am wenigstens. Schmal und schüchtern. Er öffnete zum Lachen den Mund wie eine Echse, und kein Laut drang heraus. Der Alkohol löste nichts bei ihm. Deswegen brachte ich ihn hinterher auch kaum die paar Meter über die Straße. Steif wie ein Brett. Die anderen waren gelockert. Sie waren schon brüllend in die Kneipe gekommen, hatten ihre Trinklieder angestimmt und der Wirtin als erstes feuchte Küsse aufgedrückt. Mein Alter hielt sich immer im Hintergrund, mit stiller Verachtung, nehme ich an. Das sage ich, weil es mir in diesem Augenblick einfällt. Ich habe nicht vor, hier meine Familiengeschichte aufzuschreiben. Aber an diesen Wesenszug erkenne ich ihn wieder. An diesem Beiseite-Stehen, wenn andere ihre Show abziehen. Nicht nur er, unsere ganze Familie war so. Ich bin es auch, Sohn meiner Eltern. So begegnete ich mir hier also selbst. Zu meiner größten Verwunderung.

Heute saßen sie alle allein herum. Das hätte es früher nicht gegeben. Man musterte mich kurz und ließ  mich in Ruhe. Das mussten die neuen Stammgäste sein. Zu Kosta kam man nie zufällig. Die neue Generation von Nachbarn. Alles gepflegte Kerle, sportliche Typen im Vergleich zu früher. Einer trug Seglerschuhe, ein anderer ein verwaschenes Lacoste-Shirt. Die allermeisten trugen Jeans. Keine verschossenen, verschwitzten Anzüge wie früher. Sie wechselten sicher ihre Klamotten täglich. Mein Vater trug seine Sachen immer wochenweise. Nicht mehr seine Welt. Der Alkohol war heute in jedem Fall stärker als jedes Unglück. Auch die Unglücke haben sich verändert, scheint es.
Ich stand an der Theke, der Wirt stülpte die Gläser über die Bürsten im Spülbecken und ignorierte mich, und alles wartete, dass ich mein kleines Ratsherren austrank und wieder verschwand. Das war in Ordnung, es ging nicht darum, groß aufzufallen. Nach zehn Minuten legte ich zwei Euro auf den Tresen und tat ihnen den Gefallen.

In diesen rätselhaften, verwinkelten Hinterhöfen mit den kleinen Fabriken und Werkstätten war ich früher ständig unterwegs, ständig verjagt. So war es früher. Heute alles ist offen, hell erleuchtet. Lauter großfenstrige Fabriketagen, familiengerechte Wohnungen, Ateliers. Designer, Kulturschaffende. Der Schornstein der alten Wäscherei steht noch, aber nur aus Nostalgie. Der Straßenblick von hier, von dort, eine Ecke, an der ich früher herumgelungert habe, ein dicker Brocken stehender Zeit – so stand ich verloren zwischen den schwarzen Reifenspuren des Kohlehändlers im Schnee. Im Geruch, der aus der Fahrradwerkstatt drang. Der alte Hennings in seinem verdreckten Blaumann stand davor, den sein schmächtiger Körper kaum ausfüllte. Wie ein Geist, mit fleckiger Schiebermütze und Möwenblick und einer zerfledderten Zigarre. So stand er neben den verrußten Treppenstufen, die in seinen lichtlosen Keller führten. Drinnen roch es nach Gummi und Karbid, und  die Fahrradschläuche hingen wie schwarzes Gedärm von der niedrigen Decke. Das sind wahrscheinlich meine ersten Erinnerungen. Nicht dass mich zurücksehne, aber andere habe ich nicht. Ich brachte ihm mein Kinderfahrrad. Es hatte einen Platten, oder die Kette war gerissen. Er nahm es, ohne den Stumpen aus seinem schmalen, lippenlosen Mund zu nehmen, und eine Viertelstunde hatte ich das Fahrrad zurück. Es kostete nichts. Ich war mir immer sicher, dass das Leben, das hier stattgefunden hat, nichts ein zäher Traum war, eine fixe Idee. Ich tat nichts, um daraus aufzuwachen. Es hat eine beruhigende Wirkung, eine eigentümliche Wärme. Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich so lange nicht hingefahren bin. Nichts schlimmer, als wenn die Illusion der Vertrautheit stirbt. Damals redeten alle vom Leben in der Heimat. Sie waren die Davongekommenen. Die halbe Stadt war ein Trümmerhaufen, diese Gegend hier stand noch, weitgehend unversehrt. Am Ende der Straße gab es einen riesigen Betonbunker. Dort hatten sie alle zusammengesessen, und als sie wieder herauskamen und die Häuser noch standen, sind sich alle weinend um den Hals gefallen. So erzählte es meine Mutter. Der Bunker ist inzwischen abgerissen. Für mich gehörte er immer hierher. So wie die Fassaden, die Fenster, die Bäume und das Licht, das durch die Baumkronen fiel und damals genau dieselben Schatten warf wie jetzt. Durch das Gebiet zog immer ein unbestimmter Geruch, das kann ich beschwören. Jetzt war er auch verschwunden. Weder angenehm noch unangenehm. Aber er war immer da.

Mona war nicht unmusikalisch. Ich erinnere mich jedenfalls an ein altes Foto, auf dem sie mit Gitarre zu sehen ist. Schwarz Weiß. Sie muss vierzehn oder fünfzehn gewesen sein. Sie scheint zu singen, nicht lauthals, nicht ausgelassen; eher für sich, während sie ihre Linke vorsichtig zu einem Griff auf die Saiten setzt. Keine Ahnung, wo das Foto geblieben ist. Ich werde in ihren Sachen nachsehen. Ich habe sie nie singen hören, aber in meiner Erinnerung ist ihr Gesang so gewiss wie der Anblick dieser Straße.

Ihr Haus lag nicht weit von unserem, zwei Straßen weiter. Ich kniff die Augen zusammen und musste mich anstrengen, um unter den rausgeputzten Fassaden noch das frühere Antlitz ihres geduckten Hinterhauses zu erkennen. Damals wuchsen zwei kleine Fichten vor ihrem Fenster, die jetzt den ganzen Hof mit ihren Wipfeln verdunkelten. Aber wenn man sich lange genug einlässt, spürt man, dass die Dinge sichtbar oder unsichtbar das Leben speichern,  auch wenn niemand mehr da ist, der einem die Tür öffnet. Solche Sachen meine ich, wenn es um das Wiedererkennen geht, auch von Dingen, die nicht mehr da sind. Ja, ich meine, dass sie ewig bleiben. Ich meine, dass man diese fernen Stimmen immer wieder aufspüren kann. Es muss nur jemanden geben, der sie empfangen kann. Monas Wohnung war klein und lag im ersten Stock. Ofenheizung, Doppelfenster mit morschen, verdreckten Holzrahmen. In der Küche hing ein kleiner Boiler, es gab einen Kohleherd und ein Spülbecken aus Keramik, das ungefähr in Kniehöhe über dem Steinboden hing. In allen Häusern war das so. Das Klo war in der Abstellkammer. Zum Duschen ging sie ins Schwimmbad oder zu Freunden. Es gab eine Klingel an der Haustür, aber wir hatten vereinbart, dass ich klopfen sollte, wenn ich zu ihr kam. Mona war immer misstrauisch. Ich war befangen, voller Ehrfurcht, wenn ich eintrat. Kein Mann durfte in ihre Wohnung Aber als ihr Halbbruder und mit meinen elf Jahren mache sie bei mir eine Ausnahme, wie sie sagte.  Ihr Coming Out hatte sie in Kalifornien. Davon erzählte sie andauernd. Von der Zeit Zeit davor habe ich nur wenige Bilder. Aber meine Bewunderung für sie muss schon aus der Zeit davor stammen, und an der Art, wie ich glaubte, dass die kalifornischen Jahre sie verändert hatten, ermesse ich,  wie meine Erinnerung an sie aus der Zeit davor war. Ihr Misstrauen, das ganze mürrische Beäugen war mir neu, und ich hörte aus ihren Worten ein echtes Bedauern, überhaupt nach Deutschland zurückgekehrt zu sein. War irgendwas schiefgelaufen? Vielleicht hatte sie auch Heimweh nach Deutschland, die sie sich nur nicht eingestehen wollte. Aber das ist unwahrscheinlich. Sie saß also wieder in diesem Deutschland, das sie depressiv machte, wie sie sagte. Sie erzählte immer eine Menge von Kalifornien, wenn wir erstmal zusammensaßen. Das Ganze wirkte wie ein großes konspiratives Geheimnis. Etwas unheimlich. Sie zeigte Fotos von ihren Freunden, oder welche, die ihre Freunde dort von ihr gemacht haben. Auf einigen war sie mit geöffnetem Hemd zu sehen, darunter kamen ihre nackten Brüste zum Vorschein. So stand sie lachend in der kalifornischen Sonne. Sie machte keine Anstalten, diese Fotos zu verbergen. Es schien ihr egal zu sein. Oder sie wollte mich überzeugen, auch nach Kalifornien zu gehen. Es gab auch andere Aufnahmen, vom Dunst über der San Francisco Bay. Die Golden Gate Bridge war im Dunst fast verschwunden, und anscheinend durchdrang er die ganze Stadt, die Straßen, die Häuser, die Wohnungen. Sie steckte sie sich einen Joint an, und der Qualm vereinte sich mit dem Geruch ihrer Wohnung, den säuerlichen Ausdünstungen ihrer Kleider und der leichten Fäulnis, die aus dem Treppenhaus drang, und damals dachte ich, sollte ich jemals im Dunst der Golden Gate Bridge stehen, so würde mir exakt dieser Geruch in die Nase wehen. Ich redete auch immer mehr, als ich wollte. Es war mir peinlich, doch ich konnte nicht aufhören. Sie bremste mich auch nicht, sondern hörte zu, sagte manchmal etwas, und ich fühlte mich sogar verstanden. So ungefähr sah das Klavierüben bei ihr aus. Irgendwann sagte sie, dass jetzt auch das Klavier dran sei, setzte sich neben mich auf den Hocker und achtete darauf, dass ich nichts ausließ.

 

 

Der überfüllte Bus hält an der Avenida Vinte é Três de Maio im südlichen Stadtzentrum, gleichzeitig mit mindestens sieben andern, alle hintereinander. So geht das hier ständig. Und alle fahren sofort wieder ab. Von den Wartenden, die sich dicht gedrängt an der Haltestelle die Beine in den Bauch stehen, steigt kaum einer ein. Als interessiere sich keiner dafür, von dieser merkwürdigen Insel an der zwanzigspurigen Straße wegzukommen.

Auf die andere Seite führt nur ein schmaler Betonsteg, unablässig scheint er zu zittern von den Vibrationen des anbrandenden Verkehrs. Mitten in der Woche. Frühling in São Paulo, der größten Stadt Südamerikas: Ein ruhiger Vormittag. Milchiger Himmel, in den die Sonne allmählich ein gleißendes Loch bohrt. Mit den Abgasen steigt dampfige Hitze vom Asphalt auf und der Geruch von Staub und alten Autoreifen. Die Zufahrt zum Park ist mit Betonklötzen verengt. Uniformierte lungern an einem umgebauten Container herum, der in den Farben der Polizei gestrichen ist. Tag und Nacht patrouillieren sie auf Motorrädern im und um den Park. Wegen der Diebe, sagen die einen.
Wegen des Drogen- und Schwulenstrichs, sagen andere.
Oder nur wegen der ganz normalen Besucher, die sich an den Pflanzen bedienen oder haufenweise Müll dalassen.

Es gibt nicht viele Orte in dieser Stadt, wo man sich unter freiem Himmel treffen und Zeit verbringen kann. Das typische Sao Paulo-Gefühl sind Ruhelosigkeit, Monotonie und untergründiger Schwindel. Ein Kreisel, der sich auf der Stelle dreht; ein riesiges Gefährt, das mit Vollgas vor einer Wand heißläuft.
Die Atmosphäre verändert sich an jeder Ecke, die Dritte-Welt-typische Kollage der Gegensätze: die skurrilen Wohnblocks der Reichen, mit Balkonen als Swimmingpool, Gartenzwergen in nachgebauten Fachwerkhaussiedlungen; und daneben die aus Holzlatten, Blechkanistern und Palmwedeln zusammengezimmerten Armensiedlungen, deren Bezeichnung von einer brasilianischen Kletterpflanze stammt: Favela. Geschäftsstraßen mit modrigen Wolkenkratzern im Geflimmer von illegalen Märkten unter verdreckten Plastikplanen, aus denen Rauch und Musik aufsteigen.

Ich verstehe: Ibirapuera ist kein beschaulicher Stadtpark. Es ist eine künstliche Insel inmitten des Chaos. Eine organisch geformte Welt aus exotischen Pflanzen gegen das Gewucher des Molochs.
Ich frage mich: Was ist das wahre Brasilien: Das Naturidyll im Kleinen, oder die Betonwüste drumherum?
Im Park sollte sich beides vereinen, die Armen und die Reichen, die Europäer und Afrikaner, die Mestizen und die Minderheit der Indigenen.
Es gibt Spiel- und Sportplätze, einen künstlichen See, und über eine kleine Eisenbrücke erreicht man die große Liegewiese, die Praça da Paz: den „Platz des Friedens“.

Der Platz des Friedens ist eine Oase, ein Versprechen der fünfziger Jahre an eine Stadt ohne Geschichte.

Als Brasilien sich als Land der Moderne erfand, in dem ein neuer Mensch, eine neue Kultur entstehen sollte, wie der Philosoph Vilém Flusser schrieb, war Sao Paulo die Metapher dieses Neuen: Der tänzelnde Schritt der Burschen, das weltverschlossene Lächeln, das rhythmische Klopfen auf Streichholzschachteln und mit Kochlöffeln wie auf eine Tam-Tam-Trommel; die graziöse Art, mit der Lausbuben Fußball spielen und sich balgen; die Eleganz, mit der selbst Messerstechereien in Vorstadtlokalen ausgeführt werden – all dies verleiht dem brasilianischen Alltag jene beinahe gepflegte Kultiviertheit, die so stark vom europäischen Alltag absticht.

Die Stadt aber ist nicht gewachsen, sie wuchert einfach. Mit der Freiheit des Neuen, mit Revolutionen einer neuen Ordnung konnte sie nie was anfangen. Sie selbst bestand ja nur aus der Monotonie fortwährender Umwälzungen.
Die Leute, die herkamen, trennte stets mehr, als sie verband. Abgesehen von der Freiheit von Europa, der Errungenschaft nationaler Eigenständigkeit, gab es keine Philosophie, keine Sinnstiftung – die Basis der Brasilianischen Moderne waren nicht Christentum, Marxismus, Faschismus oder irgendeine andere importierte Idee, sondern Spiel und Tanz.

Der Ibirapuera-Park ist der Park jenes neuen Brasiliens. Ein soziales Gesamtkunstwerk, errichtet aus der Pflanzenwelt des brasilianischen Hinterlandes von Roberto Burle Marx.

 

Produktion: Deutschlandradio 2015
Mitarbeit: Victor Negri

Sprecher (in diesem Ausschnitt): Christian Schmidt, Max Volkert Martens
Ton: Hermann Leppich
Regie: Ingo Kottkamp

 

Rio ist ein Spielfilm. São Paulo ein Dokumentarfilm.
Arnaldo Jabor

I

Wer aus einem anderen, glücklichen Stadttraum kommt,/ lernt schnell, dich Realität zu nennen. So sang Caetano Veloso in seiner berühmten Ode an Sampa, die hässliche Megapolis, die schon längst keine Polis mehr ist. Kein fader Mythos eines neuen Ilion oder Rom wird hier geschrieben. Zu Fuß durchwandere ich ihr ausgemergeltes Inneres wie einen gestreckten und zergliederten Leib mit seinen zahllosen toten und noch lebenden Flecken.

Es heißt, daß Rio im ewigen Wettstreit der beiden Metropolen São Paulo kaum etwas so neide wie diese schüchterne Hymne Caetanos, in der er bekennt, vom schlechten Geschmack, den São Paulo verkörpere, zunächst abgeschreckt worden zu sein – dann jedoch, nach und nach, die wahre Schönheit hinter der harten, konkreten Poesie der Straßen zu erkennen.

Zu Beginn scheint es mir wie Caetano zu ergehen auf seinen ersten Streifzügen, ich bewege mich langsam, zögernd durch die verschlungenen Quartiere; frage mich, was ich sehe, und habe nichts verstanden.

Der andere, kaum glücklichere Stadttraum, aus dem ich komme, lehrte mich einen anderen Begriff von Stadt, und einen anderen Begriff von ihrer Zerstörung.
Die Atmosphäre verändert sich alle paar Straßen. Heruntergekommene, fast menschenleere Blocks neben überfüllten asiatischen oder europäischen Immigrantenvierteln, Geschäftsstraßen mit modrigen Hochhäusern aus den fünfziger Jahren im Geflimmer der zahllosen windigen Marktstände, von denen Rauch und Musik aufsteigt. Ruhelos, auf dem Weg, ohne je irgendwo anzukommen, wandeln sich die Szenerien, ein sich ständig drehender Kreisel, ohne Hinweis auf Zuordnungen, ohne Ordnung scheinbar überhaupt, die Zukunft eine Wand, vor der das riesige Gefährt mit rasendem Motor auf der Stelle bebt.

Mein Begriff von Zerstörung war bis hierher von einer europäischen Erfahrung geprägt, von geordneten Zeitabläufen: eines Zustandes Vorher und Nachher, Zerstörung als Transformation, Verwandlung der Stadt in ein Anderes, eine Ruinenlandschaft. Aber in São Paulo gibt es nur Gegenwart, kein Vorher, kein Nachher – Zerstörung erscheint hier nicht als Begriff einer konkret eingrenzbaren Gewalt, einer Zäsur in der Geschichte, auf die Verschwinden oder Erneuerung folgte. Wenn man vom explosiven Beginn im 19. Jahrhundert absieht, als sich São Paulo zur Großstadt entwickelte, gab es hier stets nur alles gleichzeitig, in einer allumfassend gewaltsamen Komprimierung. Grundzustand der Stadt ist Zerstörung, ist Vorher und Nachher, zusammengepresst in unausweichliches Miteinander, weder Vor- noch Rückschau werden den Bauten je Bedeutung geben. Tiefgaragen können in kurzer Folge zu Kirchen und dann zu Leichenschauhäusern und danach wieder zu Tiefgaragen werden. Zahllose Investmentruinen, Hochhausrohlinge, die das gesamte Stadtbild durchziehen, illustrieren die Identität von Neubau und Ruine, Fortschritt und Abbruch, die sich leer um sich selbst drehen. Die simple äußere Anmutung dieses Stadtbildes, sein Patchwork-Charakter, der niemals Orte von Dauer erzeugt, läßt die üblichen Manifestationen der Zeit, niederschmelzen in einem kurz aufleuchtenden, illusionistischen Kern des Jetzt. Nur durch die Kernschmelze der Zeit scheint das Überleben der Maschine möglich.

II

Eine stinkende Brachfläche in der Mitte São Paulos ungefähr von der Größe des Potsdamer Platzes Anfang der neunziger Jahre, direkt nach dem Fall der Berliner Mauer. Das Gebiet nennt sich verharmlosend Parque Dom Pedro II, ein historisches Gebäude der Stadtverwaltung steht hier als Solitär umgeben von Autobahnschleifen und Durchgangsstraßen, und einer der größten Busbahnhöfe der Stadt grenzt direkt an. Ein transitorischer Ort in einer durch und durch transitorischen Stadt, der trotz seiner vermeintlichen Leere durchsetzt ist von engen Passagen und abgesteckten Terrains von Obdachlosen und Kriminellen.  Und doch ist er so etwas wie der Mittelpunkt. Dieses Leere Zentrum muss der Ort sein, an dem die Stadt zu sich selber kommt, an dem sich die Verhältnisse und Begriffe klären lassen. Der Ort, an den man auf diesem Weg vielleicht zwangsläufig kommen muss, um zu Füßen des Feldherrenhügels der Großbanken und neben der Kathedrale zu stehen, die den Kölner Dom imitiert, um von hier aus ins leere Gedächtnis der Stadt zu blicken.

In Brasilien, so sagt man, werde gern zitiert, und zudem eigne der brasilianischen Mentalität ein Hang zur Ironie. Das kilometergroße Loch neben dem Bankenhügel wirkt wie eine Ironie Hiroshimas und Nagasakis. Der Kölner Dom und die miniaturisierten New Yorker Hochhausprothesen der Bankzentralen bilden die Ränder der Leere und vereinen sich zu einem Panorama der Geschichtslosigkeit, einem Angriff auf das Gedächtnis, in dem sich das Vorbild ähnlicher Szenarien in anderen Städten des amerikanischen Kontinents, in anderen Teilen der Welt erahnen lässt.

In den dreißiger Jahren befand sich auf dem Areal des Parque Dom Pedro II eine florierende Textilindustrie. Die Fabrikarbeiter lebten nahebei in den niedrig gelegenen Vierteln Brás, Mooca oder Belém, die von Überschwemmungen heimgesucht wurden, vis á vis zu Banken und Fabriken. Als die europäischen Investoren gegen Ende des Textil-Booms das Interesse an ihren Fabriken verloren, ließ man sie verfallen und schließlich abräumen, zu einem Zeitpunkt, da die Stadt längst über die vormals sie begrenzenden Ufer getreten war, ihr einstiges Zentrum vergessen hatte.
In Brás, Mooca oder Belém, den alten Arbeiter- und Immigrantenvierteln, mit ihren durchfeuchteten Fabrikgemäuern noch im Manchester-Stil, wo die Entwicklung zum Stillstand gekommen ist, wirkt São Paulo wie etwas weit Entferntes, als läge es hinter einer horizontweiten Schwelle aus wildwuchernden Wolkenkratzern, einer Schwelle, die es selbst ist. Die Geschichte der Arbeiterquartiere, die buchstäblich im Dunstkreis des alten Gasometers liegen, haben wenige so beschrieben wie der Historiker Nicolau Sevcenko, der die Atmosphäre dieser Viertel noch einmal erahnen läßt. Seit jeher waren sie Durchgangsquartiere, die ehemaligen Brennpunkte der politischen Agitation, eines brasilianischen Proletariats und seiner Anführer von links und rechts ebenso wie der großen Banditen und der ersten brasilianischen Homosexuellenszene – sie waren zu den Hochzeiten der Industrialisierung selbst Viertel in ständiger, rasender Veränderung. Heute scheint das Leben hier erstarrt in bewohnten Ruinen, die man den Kleinverdienern und Tagelöhnern überläßt. Geld und Initiativen für Erneuerung fehlen. Hier hat, auch dies wie eine Ironie, Zerstörung ein ähnliches Gesicht wie in den alten Städten Osteuropas sozialistischer Zeiten.

III

Serge Gruzinski, der Pariser Soziologe, beschrieb in den neunziger Jahren die „Gesellschaften des Übergangs“ nach dem Fall des Kommunismus in Europa nach dem Vorbild der Städte Lateinamerikas als Sociétes Fractales: Sie entziehen sich den klaren Aufteilungen der klassischen Analysen, die Rollen sind durcheinander und ambivalent (…) In der Verwirrung der ideologischen Bezugspunkte, den Verstörtheiten des Untertanengeistes, den der Überlebenswille provoziert, zeichnet sich ein menschliches und politisches Niemandsland ab, in dem die gewohnten Aufteilungen verschwimmen.

Gruzinski greift Vilém Flussers Vision von der neuen Stadt und dem neuen Menschen, die in Megalopolen wie São Paulo Gestalt annähmen, als dystopische  und ironische Anspielung auf. Die Situation postkommunistischer Staaten  der neunziger Jahre als Fortsetzung postkolonialer Gesellschaften Lateinamerikas erscheint nach den Abschottungen des Kalten Krieges historisch verdreht. Gruzinski meint aber keinen historisch begründeten Zustand, sondern das Krebsgeschwür sozialer Verwahrlosung, das die übergangslose Implantation neuer Wirtschafts- und Sozialordnungen unter dem Deckmantel historischen Fortschritts auf ganzen Kontinenten hinterlässt. Die Komprimierung der klassischen Zeitordnung von Gründung, Entwicklung und Vergehen einer Stadt oder einer ganzen Gesellschaft bedeutet zugleich die Aufhebung all ihrer Gestaltungen, Formen und Quartiere in einem Gebilde, das seine eigene Geschichte wie ein schwarzes Loch verschluckt, im Jenseits der einstigen Idee von der universellen Polis, welche Zerstörung und Aufbau, Niedergang und Erneuerung als dialektische Zustände verkörpern sollte.

Den Überblick über São Paulo gewährt das Panorama vom alten Zentrumshügel, der für die Strategen des Kapitals einst den Feldherrensitz abgab. Das höchste Gebäude der Stadt wirbt für sein Dachrestaurant mit der obligatorischen Fernsicht, und die Häuserlandschaft, die, wie es in früheren, ehrfürchtigen Stadtbeschreibungen heißt, in Ausdehnung und Unzugänglichkeit dem Urwald des Hinterlandes gleicht, fungiert noch heute als Metapher für Trauma und schließlich erreichte Eroberung einer unzugänglichen Welt, die Eroberer und nach ihnen Gelehrte und Unternehmer hier vorfanden.

Gleichzusetzen mit der Überwindung der Straßenhölle und danteschem Aufstieg ins Paradies, den man symbolisch auf der Dachterrasse eines Wolkenkratzers mit brasilianischem Kaffee und Black Forest Cherry Cake feiert, nimmt man diese andere Zivilisation in den Blick, für ein gutes Viertel durchschnittlichen brasilianischen Arbeitermonatslohns. Aus 160 Metern Höhe verdampft das Häusermeer am Horizont unter einer erhabenen Glocke aus gelblichem Dunst und verschont den Blick mit den Details, dem ständigen Strom von Köpfen und Reifen, wie schmutziges Wasser (Loyola Brandão).

Die Gewalt der portugiesischen Eroberer, die nicht einmal mehr als Missionare, sondern von vornherein als Ausbeuter kamen, setzt sich als Übertragung noch heute im Small Talk der Fassaden fort. Hubert Fichte hat einst die Arroganz des europäischen Mitleids herausgestellt, das sich angesichts dieser „Traurigen Tropen“ einstellt – und mit der Dauer meines Aufenthalts wächst mein Vorbehalt vor mir selbst. Die Stadt, die mich mit der teilnahmslosen Lässigkeit aufnahm, mit der sie alles Fremde amalgamiert, beginnt mich zu verändern. Mit jeder Woche fällt es schwerer, das Leben in São Paulo zu begreifen: die Stadt nicht als Faszinosum, sondern in ihrer eigenen Normalität zu sehen. In den Straßen, im Verhalten der Bewohner, steckt eine verwirrende Simultaneität von Hektik und Langsamkeit. Man sieht das brutale Vorandrängen immer neuer Verkehrswellen und zugleich das regungslose Herumstehen unzähliger Passanten, die stundenlang nichts anderes zu tun scheinen als Herumzustehen. Bei genauerer Betrachtung verlaufen die Grenzen in der Stadt nicht zwischen Wohngebieten, sondern zwischen Verhaltensweisen, Tätigkeiten, Atmosphären: zwischen dem massenhaften Kleinsthandel mit Schieberware und dem Massenauftrieb der Angestellten in den Bankenvierteln oder den abgeriegelten Hochhausburgen des Reichenviertels Morumbi. Oft liegen nur Momente zwischen Herzlichkeit und Kälte, Faszination und Lächerlichkeit. São Paulo, die größte deutsche Stadt außerhalb Deutschlands, kann auch mit einer stattlichen Anzahl gepflegter Setzkastengärtchen und Gartenzwergen aufwarten.

Der unvermittelte Wechsel der Stimmungen zeigt sich besonders eindrucksvoll in der Rush Hour: Leute, die eben noch hektisch debattierten, fallen einen Augenblick später in den Sekundenschlaf auf Rolltreppen oder in den überfüllten Nahverkehrszügen, Batterien im Stehen schlafender Körper mit im Traum verdrehten Augen. An den zentralen Bahnhöfen entwickelt sich bei Ankunft eines Zuges ein infernalisches Gedränge, Momentaufnahme des brasilianischen Darwinismus im Tunneluntergrund, bei dem täglich eine Anzahl Rippenbrüche, Herzinfarkte und offene Wunden anfällt. Ignácio de Loyola Brandão hat das Szenario in den 80er Jahren sehr gegenwärtig vorgeführt, bezeichnenderweise in einem „Zukunftsroman“, der im São Paulo des Jahres 2000 spielt: Es wird geschubst, gedrängelt, geschlagen, mit Füßen getreten, geflucht, herumgefummelt. Als sei man bei einem römischen Wagenrennen. Ben Hur. Die körperlich Schwächeren meiden die Arenen der Bahnhöfe.

IV

In den langen Gängen der Metro und der Vorortbahnen herrscht während mehrerer Stunden am Morgen und Nachmittag Laufschritt, wie eine Massenflucht ohne Ziel, der niemand in die Quere kommen sollte. An den Ausgängen warten immer Krankenwagen. Doch als mir einmal die Kappe meines Filzstiftes vor die Füße der Menge fällt, macht diese unversehens Halt und wartet, bis ich sie aufgehoben habe.

Die Aufmerksamkeit verlegt sich stets auf den Augenblick, auf die Situation des Hier und Jetzt, selten nur darüber hinaus. Das Ironische der Mentalität betrifft auch die Kultur der Verabredungen. Wenig ist darauf zu geben, auch wenn ihr eine herzliche Begegnung vorausging. Ein Mechanismus der prinzipiellen Bereitschaft, sich spontan einzulassen, im spontanen Carnaval einer Augenblicksutopie von allzumenschlicher Solidarität, dazu geeignet, für kurze Zeit die Rüstungen der sozialen Stände und Herkünfte zu durchschlagen. Das Gedächtnis erinnert sich an die Rituale und Tänze beständiger Freundschafts- und Liebesbezeugungen en passant, aber kaum an die Beteiligten.

Nur das offene, spontan Sexuelle, wie es einem in Rio entgegenschlägt, erscheint hier, als ob es damit seinen Reiz noch zu erhöhen trachte, verhalten, fast wie ein Tabu.

Die Sprache ist die der Abbreviatur, Geschichten tauschen sich aus in einer gebrochenen Poesie der Konspiration, der knappen Andeutungen, Gesten und Mienenspiele, der besonderen Intonation. Es ist das Subversive der Geheimsprachen, das sich den körperschindenden, alltäglichen Zwängen des Molochs entgegensetzt, flimmernde Lücken einer fortlaufenden Korruption des Realen, verschwiegener Markt und offenes Geheimnis, eine Parallelkultur der schnellen Zeichen und Gesten, die die Anonymität zwischen den Gewalten der Stadt von Aufbau und Vernichtung überbrückt und erträglicher macht. Dennoch gilt: Du bist nie so einsam wie in der Begleitung eines Paulistas (N. Rodrigues): Wie die eitlen Fassaden und Vorgärten der besseren Viertel, so imitieren auch die Zwiesprachen lediglich das Persönliche, Eigene, Tradition und Ritual, in hybrider Alltäglichkeit, erfinden sich neu, im auf sanft gestimmten Sound dieser stets wie im Vorbeieilen singenden Sprache. Sie klingt in den Ohren nach, eine posthumane Elegie der Bits – sich selbst betrauernde Verheißung.

 

Dem 1973 im dänischen Maglegaard geborenen Sergej Jensen sind trotz seines vergleichsweise jungen Alters schon an zahlreichen wichtigen Adressen Soloshows gewidmet wurden: 2012 im PS1 des MoMA in New York, davor unter anderem in der White Cube Gallery oder in der Münchner Pinakothek der Moderne.
Sein malerischer Ansatz erscheint auf den ersten Blick geläufig als eine Malerei ohne Farbe, „simpel“ sogar, wie Roberta Smith unlängst schrieb, eine Malerei, die immer dann am besten sei, wenn sie gerade durch die Abwesenheit von Malerei zum malerischen Ereignis werde.
Heinz Stahlhut verglich sie eher mit Texturen, mit Palimpsesten, in denen eine Schicht eine andere überschreibt. Eine kleinere Leinwand aus dem Jahr 2007, die ein fragmentiertes Tiermotiv zeigt, aufmontiert auf einer Leinwand aus dem Jahr 2003, scheint in dieser Hinsicht ein typisches Jensen-Werk zu sein. Jensen selbst scheinen solche Vergleiche eher peinlich zu berühren, er lässt sich am liebsten überhaupt nicht darauf ein, erwähnt auch die Bildgrund-Schichtungen nicht in seinen Bildtiteln, weil er, wie er sagt, den Betrachter nicht zu irgendwelchen Spekulationen einladen möchte, dass hier zwei Werkphasen zueinander in Beziehung gesetzt werden.

Damit verlässt er zugleich den Rahmen des Geläufigen. Anders als die robusten, narrativen Deutungen es unterstellen mögen, entwickelt sich in seinen Arbeiten ein geradezu schüchternes Verhältnis zur Bilderscheinung überhaupt. Als taste sich Jensen in jeder Arbeit erneut erst zu einer Möglichkeit von Bild, gemaltem Bild. Er bezeichnet sich als „chronisch unsicher“, ohne dabei affektiert zu wirken wie viele seiner Kollegen. Der Zweifel an seinem Medium wirkt authentisch und liegt auch auf der Hand. Er ist zu alt, zu bekannt, um modisch zu sein, aber er galt bislang eher als ein von außen, von Kritikern an das Medium herangetragener Verdacht. Für jenen ist es eine Bredouille, weil er es einerseits ernst meint mit der Malerei, andererseits nicht umhin kann, in ihrer Realisierung lauter verbrauchte Gesten vorzufinden. Er operiert offen an einem aussichtslosen Unterfangen und hält sich für grundsätzlich gescheitert, ohne damit zu kokettieren.

Ungern lässt er sich zitieren, denn alles kann im nächsten Moment schon wieder anders sein und dann, wie er sagt, gegen ihn verwendet werden. Einmal verhüllt er eine monochrom bemalte Leinwand mit einer anderen, ausgefransten, die er lose darüber hängt. Ein anderes Mal zeigt er nur die Rückseite einer Leinwand, durch die sich Farbe wie ein großer, farbloser Fleck durchgedrückt hat. Ein anderes Mal findet sich nur eine alte, braune Stoffbahn mit zwei roten Lappen direkt auf der Wand.
Unfreiwillig denkt man bei manchen Bildern an Robert Ryman, mit dem Unterschied, dass das vorweggenommene Scheitern bei Sergej Jensen eine Art skurrilen Humor erzeugt und jegliche heroische Attitüde der Reinheit fehlt.
Am liebsten hätte er, sagt er, dass das Bild gar nicht auf der Leinwand erscheint, sondern daneben, dort, wo es nicht hingehört. Ihn stört, dass die Rezeption von Kunst stets alles so schnell zur Kunst erklärt, was gemalt ist und erscheint. Die Leinwand andererseits einfach leer zu lassen, wurde wiederum schon zu oft versucht. Nullpunkte der Malerei lassen sich nicht beliebig wiederholen. Jensen bedient sich stattdessen des sparsamen Auftrags von Farbe, um Leere anzudeuten, auf etwas absichtsvoll Fehlendes zu verweisen. So erzeugt er wiederum jedoch auf seltsame, fast mysteriöse Art und Weise gerade das, was diese Bilder durch und durch erfüllt.

Manche Kritiker sahen in den Young British Artsist von Beginn an eine Art künstlerischer Protestbewegung, die sich seit Mitte der achtziger Jahre gegen die institutionelle Dominanz von Minimal und Concept aufgebaut hatte. Zumindest bei Damien Hirst erscheint diese Einschätzung plausibel, auch wenn sie sich heute eigentlich nur noch rückblickend durch sein Frühwerk der neunziger Jahre bestätigen lässt, als Hirst als populäre Leitfigur für eine sich im britischen und amerikanischen Kunstbetrieb herumsprechende Überdrusshaltung gegenüber konzeptueller oder auch nur „abstrakter“ Kunst auftrat. Auch wenn er selbst für die ironisierenden Formzitate aus Op Art und Mimimal in seinen Arbeiten mitunter als „Conceptualist“ angegriffen wurde.
Auch Hirsts berühmte, in Formaldehyd eingelegten Tierkörper von Anfang bis Mitte der neunziger Jahre waren letztlich nichts anderes als die Zitate eines Kanons minimalistischer Raumskulpturen, verwandelt in Bassins für die Aufbewahrung und Präparierung toter Lebewesen, deren pseudowissenschaftliche Zurschaustellung als Chiffre für die Leblosigkeit der politisch-moralistisch getönten Werke von Minimalisten und Konzeptualisten diente. Es sind Mausoleen und Designobjekte zugleich, entrückt und banal, ironisch-aggressive Vermöbelungen eines in Hirsts Augen bigotten Reinheitskultes des Kunstbetriebes, in dem er bewusst mit Bad Art „durchkommen wollte“.

Seinen Ansatz der auf plakativen Ekel und Nekrovoyeurismus abgestellten Memento-Mori-Ästhetik hat Hirst in den Folgejahren indes immer weiter verwässert. Insbesondere in seinen später zu Höchstpreisen verkauften Regal- und Schrankobjekten voller pharmazeutischer Präparate oder medizinischer Gerätschaften verwandelt sich seine anfangs auf Provokation ausgelegte Strategie immer mehr dem Shop Design hochwertiger Markenketten an. Sie wirken nun nur noch mit einer existenzialistische Note ornamentiert, die zu dieser Zeit als State of the Art in der Marketingbranche galt (Kampagnen von Benetton und anderen). Hirsts frühe Spot Paintings aus den ersten neunziger Jahren, die er späterhin durch seine Assistenten noch über viele Jahre weiterhin produzieren sollte, nehmen diese Entwicklung im Grunde voraus – wenn auch noch in einer bewusst inszenierten Irreführung eines kunstaffinen Publikums, das bei ersten Blick auf diese Malereien an Kompositionen der Op Art denken konnte. Da die Titel vieler frühen Spot Paintings von Psychopharmaka abgleitet waren, konnten diese „abstrakten“ Spots aber ebenso als Symbole für Tabletten als auch als kaltes psychedelisches Mandala verstanden werden, dessen geometrisches Gleichmaß so beruhigend wirkt wie das Medikament. Kunst als Beruhigungsmittel war in der Tat nicht das, was Hirst je intendiert hat

Mit zunehmender zeitlicher Distanz zum Ideenkern der Moderne hat sich das Verständnis temporärer Strategien innerhalb der westlich geprägten Kunst gewandelt. Im Kontext traditioneller Kunstgenres wie der Skulptur oder dem Tafelbild erscheinen sie oft als Antithese gegenüber dem bürgerlich-autonomen Kunstsubjekt, das für viele Avantgardekünstler das alte, zu überwindende Kunstsystem repräsentierte. Eine im Alltäglichen, scheinbar Rudimentären und schnell Vergänglichen angesiedelte, betont „unauratische“ Ästhetik, die sich etwa als Collagen mit Zeitungspapier oder Skulpturen aus Schrottteilen zeigte, schien geeignet, das Feld der ästhetischen Erfahrung zu öffnen und, so Peter Bürger, Raum für einen neuen, radikalen Begriff von Kunstautonomie zu schaffen, der die bürgerliche Ästhetik ablösen und so einen neuen Typ von Gesellschaft prägen würde. (1)

Nicht alle Avantgardisten bedienten sich einer Rhetorik des Temporalen, und die, die es taten, verwendeten sie auch nicht von vornherein und nicht ausschließlich. Zugleich beruhte ihre Anwendung auch nie auf bloßer Anti-Haltung. Dadaisten und Surrealisten, dem Bauhaus mit seinen Experimenten temporärer, „performativer“ Räume ein grundsätzlich gemeinsames Interesse unterstellt werden: feststehende Setzungen dessen, was Kunst sei, zurückzuweisen und stattdessen Kunst als offenes Feld der je jetzt entstehenden und beobachtbaren, durchaus auch anonym-überpersönlich gedachten Kräfte zu verstehen, die, wenn man sie nur einmal wirken ließe, das Potenzial außerordentlichen gesellschaftlicher Veränderung hätten.

Für John Cage oder Joan Jonas, Gustav Metzger oder Gordon Matta-Clark, für Piero Manzoni oder Bruce Nauman, Valie Export oder Rirkrit Tiravanija – Künstlerprotagonisten, die sich seit den fünfziger Jahren so ausdrücklich und weitreichend temporärer Strategien in ihren Werken bedient haben, erscheint ein solch unbefangener Zugang zur Temporalität in der Kunst hingegen kaum mehr möglich. Was sie noch mit der Avantgarde verbindet, ist die Zurückweisung einer feststehenden künstlerischen Agenda, einer kanonisch anerkannten Begrifflichkeit dessen, was Kunst überhaupt sei, welche Bedingungen sie zu erfüllen habe, um als solche vor dem Kanon der bürgerlichen Kunstgeschichte noch anerkannt zu werden. Das offene Feld, das Marcel Duchamp oder Max Ernst, André Breton oder Kurt Schwitters hinterlassen hatten, sollte auch für die Künstler nach dem Zweiten Weltkrieg offen bleiben. Was sie hingegen vom besagten Ideenkern der Moderne trennte, war jener anfängliche Optimismus des sozialen Auftrages, der sich hinter dem neuen künstlerischen Autonomiestreben der Avantgarden verborgen hatte und der sich mit den Aporien avantgardistischer Autonomiebegriffe, dem Erlahmen der Avantgarden selbst und dem Siegeszug reaktionärer und totalitärer Ideologien in Europa als völlig unhaltbar erwiesen hatte.

Die vielfältigen Strategien temporaler Aktionen sind nunmehr durch zwei Hauptmerkmale gekennzeichnet: Sie entziehen sich der gesellschaftlichen Rollen- oder Funktionszuschreibung für Kunst und verwahren sich so nicht zuletzt gegenüber einer „falschen Aufhebung ihrer Autonomie“. (2)

Zugleich definieren sie den Autonomiebegriff innerhalb einer demokratisch-kapitalistischen Ordnung neu, als einen experimentellen Status, um den eigenen Wirkungsraum, die eigenen Mittel von Kunst in der Gegenwart unter den gegebenen Umständen zu erforschen.

Temporalität ermöglicht dabei ortsgebundene Setzungen gleichzeitiger Präsenz und Flüchtigkeit, einen in unterschiedlichsten Ausprägungen fortgesetzten Balanceakt zwischen einer Ästhetik der Dauer und des Verschwindens, in der immer wieder auch moderne Versatzstücke, zugleich jedoch die Unverfügbarkeit für kanonische Rezeptionsmuster erreicht werden soll. Die Überführung von Kunst in Lebenspraxis, ein weiteres Ideal der modernen Avantgarden, kehrt zwar noch in Formen individueller künstlerischer Ansätze zurück, empfiehlt sich zugleich jedoch als teils offenes, teil ironisches Prinzip der Partizipation für den Betrachter, ohne dabei indes die Abgrenzung von Akteur und Publikum gänzlich aufzuheben.

Die Verwendung temporärer Strategien in der Kunst seit den 50er Jahren stellt sich somit als eine durchaus paradox anmutende Vereinigung von Widersprüchen dar. Ein Grund dafür ist auch in der historischen Vorbedingung zu suchen, dass es temporalen Strategien nach 1945 eben nicht mehr lediglich um eine radikale Negation der Kategorie der individuellen Kunstproduktion gehen konnte, wie sie Marcel Duchamp noch hatte einführen können und die natürlicherweise nicht wiederholbar war. Die Rhetorik des Temporären nach 1945 operiert mithin nicht nur an einer Negation kanonischer Kunstbegriffe, sondern an einer ständigen programmatischen Unklarheit künstlerischer Selbstverortung. Sie ist gewissermaßen das prädestinierte Medium dieser Selbstverortung und ihrer beständigen Aufhebung zugleich – einer imaginären Grenze zwischen Bewahrung und Auflösung kunstimmanenter Beurteilungskriterien, ohne dass der Verlauf dieser Grenze festlegbar wäre. Immerhin erheben jedoch viele temporale Strategien den Anspruch, einen solchen Grenzverlauf oder zumindest eine Wahrnehmung seiner Wandelbarkeit für den Betrachter erfahrbar zu machen. Gleichwohl hat sich das Temporäre offenkundig von einem Medium des Protestes zu einer Strategie fortlaufender künstlerischer Selbstreflexion entwickelt.

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(1) Bürger, Peter, Zum Problem der Autonomie der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft, in: Ders., Theorie der Avantgarde, Frankfurt/M. 1974, 67ff.

(2) „Falsche Aufhebung von Autonomie“ bezieht Peter Bürger mit Adorno auf die Wirkung kommerzieller Warenästhetik, mithin lassen sich auch die Bedingungen des Kunstmarktes selbst darunter verstehen. Vgl. Bürger, Peter, Problem der Autonomie (wie Anm. 1), 72f.

Für James Benning beginnt die Revolution weniger mit einem Spaziergang, als mit einer sehr langen Kameraeinstellung, auf die dann weitere sehr lange Kameraeinstellungen folgen: Große, weite, unbewegte, nordamerikanische Landschaften. Eisenbahnschienen durch die Einsamkeit. Irgendwann hört man einen sich nähernden Zug, der sich dann langsam ins Bild schiebt, und die Einstellung endet erst, wenn der letzte einer kilometerlangen Reihe von Waggons den Bildausschnitt wieder verlassen hat. So kann man durchaus Stunden zubringen, und vergisst darüber beinah, was man sieht, vergisst die reale Zeit und beginnt, sich dem meditativen Verweilen der Kamera anzuschließen.
James Benning vermittelt im Hamburger Kunstverein, bei seiner ersten umfassenden Retrospektive in Deutschland, vielfältige Aspekte eines kritischen Zeitbewusstseins – nicht allein als Aufforderung an den Besucher, sich ausnahmsweise Zeit für jede einzelne Arbeit zu nehmen und die Ausstellung als kontemplatives Ereignis zu begreifen. Letztlich geht es um Zeitökonomien als historisches Politikum. In den räumlich angeordneten Videoinstallationen der Eisenbahn-Panoramen bilden die endlosen Schienenwege die historische Zäsur in der Erschließung des nordamerikanischen Hinterlandes durch Landnahme, Verwüstung, Kartierung und die Verlegung der Trassen – während zugleich die Landschaft wie eine Entschleunigungsmaßnahme der globalisierten Transportwege überwölbt. Die Länge jeder Filmeinstellung orientiert sich exakt am Zeitmaß der Geschwindigkeit eines jeden Zuges. Auf der einen Seite des abgedunkelten Raumes projiziert ein 16 Millimeter-Projektor die Bilder an die Wand. Auf der gegenüberliegenden Seite sieht man Bilder in HD-Format aus einem Beamer. Zwischen der grobkörnigen analogen und der hochauflösenden digitalen Aufnahmetechnik liegt mithin auch die Distanz zweier Zeitalter des Bildes.
Die Züge sind auch nicht mehr die von Dampfloks gezogene Holzkisten aus Westernfilmen, sondern transportieren kilometerlange Reihen von Standard-Großcontainern von einem durchcomputerisierten Terminal zum nächsten. Sie sind materielle Zeugen der unsichtbaren digitalen Logistik globaler Speditionen. Zu den Geräuschen des Zuges spielt Benning dazu immer wieder auf der Tonspur den Sound der US-amerikanischen Mediengeschichte ein: die Übertragung eines Baseballspiels, einen Coca-Cola-Werbejingle, Eisenhowers Abschiedsrede, einen Mormonenchor, der ein patriotisches Lied anstimmt oder den Rap-Song „Fuck the Police“.

Die Parallele zwischen der gewaltsamen Geschichte von der Besiedlung des amerikanischen Kontinents und der Digitalisierung der Welt durchzieht James Bennings überaus vielgestaltiges Werk wie ein Leitmotiv seit den 60er-Jahren. Zeit ist ein zentraler Ansatz innerer Wahrnehmung. Die Inständigkeit, mit der er sein Publikum dazu anhält, sich für seine szenischen Installationen viel Zeit zu nehmen, erinnert durchaus auch an die Entschleunigungsstrategie eines John Cage – aber der 1942 in Milwaukee als Sohn deutscher Einwanderer geborene Benning denkt dabei kaum wie Cage an fernöstlich-spirituelle Meditation. Eher erscheint er als ein später Adept des deutschen Idealismus.

Zwei nachgebaute Waldhütten symbolisieren das in dieser Retrospektive. Die eine gehörte Henry David Thoreau, die andere Ted Kaczynski. Beide waren Zivilisationsflüchtlinge, beide zogen sich in die Einsamkeit der amerikanischen Weite zurück, um ein autonomes Leben zu führen, was immer das im einzelnen auch heißen mag. Beide gelangten zu einschlägiger Berühmtheit: Thoreau als Prophet des zivilen Ungehorsams, der im 19. und 20. Jahrhundert zahlreiche amerikanische Schriftsteller inspirierte, aber auch von Mahatma Gandhi und Martin Luther King rezipiert worden sein soll.

Der Mathematiker Ted Kaczynski wurde in den 90er-Jahren als Unabomber bekannt, nachdem er zahlreiche Menschen durch Briefbombenattentate verletzt und getötet hatte. Auch er lebte als Selbstversorger zurückgezogen in einer Waldhütte, verfasste ein Manifest über die „Industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft“, das in der New York Times und Washington Post abgedruckt wurde und heute, vor dem Hintergrund der Machenschaften der NSA, zu neuer Aktualität gelangt ist.

Bettina Steinbrügge, die Leiterin des Hamburger Kunstvereins, betont sicherheitshalber, dass diese Bezugnahme James Bennings auf den lebenslang in einem US-Hochsicherheitsgefängnis einsitzenden Unabomber nicht als Glorifizierung von Terrorismus verstanden werden sollte. Könnte ja sein, dass ein hysterisierter Feuilletonist nach Charlie Hebdo und Hamburger Morgenpost hier gleich einen neuen Aufreger wittert.

Doch der einzige Anschlag, den James Benning seit jeher in seinem ganz allein entstandenen Werk unternimmt, ist der auf die digitalisierte Zeitökonomie. Dass er sein Publikum dazu bringt, sich für seine Ausstellungen Zeit zu nehmen, erscheint mittlerweile schon revolutionär genug.

„Kunst entsteht ja nicht aus nichts… ist nicht nur ein Verweis, sondern ein Gespräch mit anderen, und… Dialoge, die spielen eine große Rolle, und die mach ich manchmal sichtbar, indem ich mit sehr konkreten Künstlern zusammenarbeite und zusammen ausstelle und nicht nur ausgestellt werde.“

Die Dialoge, die Nairy Baghramian in ihren Installationen mit der jüngeren Kunstgeschichte führt, schließen die Unsichtbarkeit mit ein. In ihrer derzeitigen Einzelausstellung im Neuen Berliner Kunstverein betritt der Betrachter einen leeren weißen Raumkubus, der eigentlich eine Hinterlassenschaft noch der vorangegangen Ausstellung ist.

An Wänden und Böden hat Baghramian sehr sparsam drei gebogene Objekte angebracht, die entfernt an jene schwungvollen Linien erinnert, mit denen man in Texten wichtige Stellen einkreist. „Priviliged Points“, „bevorzugte Stellen“ – so der Titel – ist aber keine Installation, die Sichtbares hervorhebt, sondern bei der die Umkreisungen selbst zum skulpturalen Objekt werden, das einen durchaus auch an Linien auf Gemälden Jean Miros oder der Skulpturen Hans Arps erinnern könnte. Sie scheinen bestimmte Stellen im Raum hervorzuheben, tatsächlich aber sieht man außer ihnen selbst nichts weiter.

„Die Objekte haben ja selbst, also sozusagen die Kunstwerke haben selbst Daseinsberechtigung, weil sie sehr skulptural sind, sie sind ja Vollmetall, wirken aber sehr leicht durch den Kunstharzbezug. Aber letztendlich sind sie auch Markierungen, wirken wie Zeichen, wie Platzhalter für ´beliebte Stellen`, wie der Titel auch sagt, für etwas anderes. Das heißt über das Objekt Hinausdenkendes und Verweisendes vielleicht. Das wie ein Werkzeug wird, das noch eine andere Funktion hat, nämlich den Ort markiert vielleicht, an dem eine Skulptur, ein Bild oder eine Vitrine stehen könnte.“

Es muss keineswegs immer so sein, dass Baghramian wie im Neuen Berliner Kunstverein symbolisch auf „Fehlstellen“ verweist. Bei der Berlin Biennale im Jahr 2008, die für die 1971 im iranischen Isfahan geborene Künstlerin einen Durchbruch bedeutete, ging sie eine Kooperation mit der einst einflussreichen, zu diesem Zeitpunkt nahezu vergessenen Schweizer Designkünstlerin Janette Laverrière ein. Schon die Anbahnung dieses Projekts ist bemerkenswert. Baghramian erzählt, wie sie vor einem Regenguss in eine Buchhandlung geflüchtet und dort dann auf ein Buch gestoßen sei, in dem Laverrières Werk thematisiert wurde. Als Baghramian später erfuhr, dass die 1901 geborene Janette Laverrière noch lebe, suchte sie sie auf und realisierte mit ihr auf der Berlin Biennale eine Ausstellung in der Ausstellung, die der hochbetagten Laverrière zur überfälligen internationalen Anerkennung verhalf.

„Auch wenn die Moderne mich interessiert, merke ich, dass die Abwesenheit der Künstlerinnen und Architektinnen … dass es viele Fehlstellen gibt und dass es da noch viel Nachholbedarf gibt. Dass nicht nur das Vorhandene sozusagen eine Berechtigung hat, sichtbar zu sein.“

Nairy Baghramian kam Mitte der 80er-Jahre als Teenager nach Berlin, interessierte sich zunächst aber vor allem für Tanz und Bühne, ehe sie nach einem längeren Aufenthalt in London nach Berlin zurückkehrte, um hier nun als Künstlerin zu arbeiten.

„Ich bin wahrscheinlich glücklich, dass ich in der Zeit zur Kunst gekommen bin, Mitte der 80er-Jahre und Anfang der 90-Jahre, weil Kunst frei von all diesen Umständen sich entwickelt hat. Die Frage, was ist Kunst, warum machen wir Kunst, wie entsteht Kunst? Weil wahrscheinlich für mich von außen also als junger Künstler nichts von außen festgeschrieben war. Wir müssen die Räume selbst erschaffen. Wir müssen die Fragen selbst stellen.“

Diese Selbsterschaffung neuer künstlerischer Räume gelingt Nairy Baghramian mit einer Ästhetik von erstaunlicher skulpturaler Leichtigkeit, die immer wieder skizzenhafte, geradezu zeichnerische Elemente in Raumbezeichnungen umwandelt. Das zweite große Objekt ihrer Berliner Ausstellung ist in dieser Hinsicht zugleich typisch und eine Komprimierung ihrer Arbeitsweise. Es wirkt wie ein silbern verchromter Handlauf, der um einen ganzen Ausstellungssaal herumführt, an den Wänden jedoch von blauschimmernden Elementen aus Aluminiumguss gehalten wird, deren Abstände unregelmäßig sind.

Zudem ist der Chrommantel des Handlaufs immer wieder unterbrochen und gibt in den Fehlstellen einen Kern aus Beton preis. Steht man in der Mitte des ansonsten leeren Saales, erzeugt dieses silberglänzende, durchbrochene Objekt eine erstaunlich Wirkung, so als ob sich das ganze Raumvolumen zusammenziehe. Eine optische Täuschung? Vielmehr wohl ein suggestiver Effekt, der die Leere des Raumes fühlbar macht und sie mit musikalisch anmutenden Kraftlinien erfüllt, die sich der Rationalisierung einer zusammenfassenden Kunstgeschichtsschreibung entziehen.

Es gibt einige Künstlerinnen in der Generation Nairy Baghramians, die das Erbe der Moderne mit abstrakt-poetisch verdichteten und oftmals auch ähnlich zart anmutenden Rauminterventionen aufrufen. Baghramian aber geht es nicht allein um das Überlieferte, sondern um die Erfahrung einer anderen, noch nicht entdeckten oder vergessenen Geschichte.