Ohne besonderen Anlass habe ich für einen Tag meinen Rückzug aufgegeben und mich für einen Tag hinausgewagt aus der Umgebung meiner kleinen Amsterdamer Dachwohnung, in die ich mich in den letzten Wochen eingeschlossen hatte. Bin zum See vor meinem Fenster hinuntergestiegen und um ihn herumgegangen, dann durch den Park hinter dem Haus bis zum Rembrandtdenkmal und zum verlassenen Musikpavillon, vorbei am Filminstitut und den bevölkerten Wiesen zwischen den Wegen zum Café Luxembourg. Benebelt vom Lärm der Straßenbahn, den ich schon nicht mehr gewohnt bin, und schließlich vom Lärm der alten, viktorianischen Bahnhofshalle der Central Station, öffnet sich wie im allmählichen Nachlassen eines Rauschzustandes vor mir die flirrende, blendende Welt aus leicht erhöhten Hafenanlagen, verkehrsreichen Plätzen, nahen und entfernten menschlichen Gesichtern. Als dann der Zug lautlos aus dem Bahnhof gleitet, wirkt die Welt, die sich hinter der gewölbten Halle hervorschiebt, nicht klein auf mich, auch wenn man es ihr in Hafenstädten gern nachsagt, und der Horizont keineswegs begrenzter als in Berlin. Eher im Gegenteil. Ich fühle mich an die stählernen Verheißungen des Hamburger Hafens erinnert, die schweren Schiffskörper, die so schwankungslos träge den sich stetig weitenden Flusslaufs hinaufgleiten, sein künstlich schimmerndes Wasser unter dem Sonnenlicht, das sich vermischt mit den Spiegelungen der Farben und scharf die Konturen der Stadt schneidet.

Dieser Zug, in dem ich sitze, ähnelt einer Vorortbahn, die Fahrt soll kaum eine Stunde dauern, obgleich sie zwei Enden eines ganzes Landes verbindet. Das verwirrt mein Gefühl für Entfernungen. Auf der Strecke bekommt man erstaunlich wenig Landschaft zu sehen. Vieles wirkt, als gehöre es eigentlich zu einer einzigen, längs der Bahnstrecke zusammengewachsenen Stadt, deren Vororte, aufgereiht ohne Übergänge, das ganze Land ausfüllen; kleine, angenehm friedlich wirkende Wohnhöfe im eigentümlich rötlichen Widerschein von Ziegelsteinfassaden, der mich wiederum an Norddeutschland erinnert. Doch all das wird von einem gewaltigen Ring von Geschäftsbauten abgeschlossen, größer und breiter als die Amsterdamer Altstadt selbst, die dagegen kleinteilig, zerbrechlich wirkt, kostbares Spielzeug. Welch neue Definition ihrer Grenzen.

Man bemerkt zunächst nicht, dass die Stadt mit diesem Riegel schon endet, ja aufhört zu existieren, ob eine andere begonnen hat – da gleitet der Zug in eine gläserne Bahnhofshalle, die an ein Flughafenterminal erinnert. Sie präsentiert einen Blick direkt auf die benachbarten, ganz nahe stehenden Neubauten. Hinweisschilder sind angebracht, die mit großen Pfeilen darauf deuten, als wollten sie den Namen der Stadt verteidigen gegen die Verwechslung mit den großen Firmenzentralen und ihren riesigen Schriftzügen. Dies aber ist Leiden. Und das dort die Universität. Die Schilder sagen es eindeutig. Geschäftshäuser als Campus der Universität. Der Name der Stadt Leiden klingt nicht nach Mühelosigkeit des Errichtens und Gründens, auch nicht nach Leichtigkeit von Ankunft und Abfahrt. Der Zug hat hier leider keine Zeit zu verlieren. Anfänglich überfüllt, hat er sich hier im Nu fast vollständig geleert und erneut gefüllt.

Mir gegenüber sitzt jetzt ein Paar von unbestimmtem Alter, das sich unablässig küsst und zugleich immer wieder nach mir und der Umgebung blinzelt, als wäre es für sie der erste gemeinsame Ausflug, das erste Mal, dass sie ihre Intimität der Welt offenbaren (was ich nicht glauben kann). Ich weiche ihnen aus, indem ich bemüht aus dem Fenster schaue, dabei jedoch unentwegt dem Spiegelbild ihrer Blicke begegne wie dem leisen Vorwurf für meine Neugier. Meine einsamen Wochen in Amsterdam werden spürbar, jetzt komme ich mir noch einsamer vor auf dieser sinnlosen Fahrt, mit der ich so nichtsnutzig zu fliehen versuche. Zweifellos beneide ich sie, aber für was? Wünsche ich mich an ihre Stelle, verschlungen mit einem mehr oder weniger vertrauten Körper eines anderen, hingegeben in Selbstvergessenheit? Oh ja, im Vergleich schneiden die beiden so viel glücklicher ab in ihrer Zweieinigkeit. Mit einem Mal öffnet sich vor dem Fenster die weite, baumlose Landschaft, beginnt der Zug über weite, brettflache Weiden mit weit hingeworfenen Viehherden hinzuschießen, und unter dem hohen Himmel mit den wilden geschwungenen Kondensstreifen von zahllosen Flugzeugen gleicht die Fahrt selbst einem Flug. Die Geschwindigkeit tut mir gut in diesem Moment, ich kann die Augen schließen, mein Bewusstsein dem Gefühl der Fahrt überlassen.

Sie endet in einer langen, lichtlosen Halle von roher Ausdehnung, die ganz plötzlich über die Fenster gestülpt wird. Das ist die Endstation, eine entkernte Fabrik zur Massenabfertigung von Reisenden, umstellt mit neuen und leeren Bürotürmen. Beim Aussteigen fühle ich mich, als müsste die Reise Tage oder Wochen gedauert haben, so schlagartig ermattet und erschöpft. Indem ich als einziger stehenbleibe, ist mein Schicksal des Weltabgewandten, des Träumers inmitten der schwirrenden und drängenden Aussteigenden besiegelt. Man lässt mich stumm zurück, und damit verlässt mich zugleich meine anfängliche, naive Hoffnung des Aufbruchs ohne Ziel, ohne Strategie. Wo bin ich hingeraten? Jetzt verlange ich nichts mehr als ein Ziel. Die große Eingangshalle des Bahnhofs besteht nur aus Eiligen und für Eilige, im Laufschritt zwischen blinkenden Kiosken, eine unablässige Bewegung zwischen Ein- und Ausstiegsmündungen. Vielleicht wäre es einfach das Beste, sich an einen dieser Kioske zu stellen, bei ihrer Kundschaft Wahlverwandte zu suchen oder allein über das Verweilen nachzudenken, nur um gerade hier die Zeit vergehen zu lassen, angesichts von unzähligen wortlosen Auftritten und Abgängen. Aber ich halte diesen Bahnhof im Denken nicht aus. Ich fliehe weiter; versuche, aus diesem Bahnhof hinauszufinden, doch das ist nicht einfach, wenn man zum ersten Mal hier ist.

Gegenüber die riesige Wand eines Parkhauses, dazwischen die Bahnsteige für Straßenbahnen. Ich wähle, weil ich mir davon verspreche, wieder zu mir zu kommen, den Fußweg durch die neue Stadt.

Auf einem Plakat sehe ich gleich darauf die Ankündigung einer Ausstellung mit Gemälden von Hans Holbein. Ich weiß nicht, in welche Richtung ich mich fortbewegen soll, aber allein die Ankündigung gibt mir wenigstens ein Ziel. Stadtplanlos wandernd und suchend stelle ich fest, dass diese Stadt eine Altstadt besitzt, die beinah unbewohnt ist. Die Szenerie rund um das Museum ist beinah irreal. Auf einem Ponton auf dem Stadtgraben, der die Westseite des Palazzo umgibt, treibt ein großes, weißes Partyzelt als Eingang und überdimensionale Werbefläche vor dem Museum, auf dem ein überdimensionales Kinderportrait in fürstlichem Gewand prangt. Schwarzgekleidete, bewaffnete Wachposten durchstreifen in Gruppen das Viertel. Als gewöhnlicher Besucher erfreut man sich derselben ambivalenten Aufmerksamkeit wie an Flughäfen. Besuchermassen drängen durch die Kontrollen und danach durch die schönen, engen eichengetäfelten Kabinette des alten Museums, in denen die Luft steht. Allerdings sind nur wenige Werke zu sehen. Meine Unlust und Ermattung wachsen wieder spürbar an. Doch hinter einem Pulk von Besuchern entdecke ich ein kleines Gemälde, das einen bemerkenswerten Mann zu zeigen scheint. Keinen König, eher einen profanen Heiligen der besonderen Art, einen herrschaftlichen Mönch. Ich erkenne es wieder von einem Besuch im Louvre, wo es normalerweise hängt: Halb abgewandt, in souveräner Verachtung des Lärms und allen Geschiebes und Gegaffes steht hier der Erasmus von Rotterdam. Ich suche, ich verlange nach Hoffnung auf innere Erhebung, mehr denn je in meinem Leben, dringlicher denn je, das Bild ermuntert mich, mich endlich dazu zu bekennen. Ich steigere mich in die eifersüchtige Behauptung meines Platzes vor dem Bild hinein; hin- und hergestoßen, aber ich stehe und stehe immer eindeutiger, mit verschränkten Armen, mit der Hand am Kinn, mit dem Ellenbogen auf den Handteller gestützt, in unerschütterlicher Betrachtung, selbst schon bin ich ein Bild geworden, zentriert in meinem Widerstand, in meiner unleugbaren inneren Verwandtschaft mit diesem Großartigen. Ja, Holbein, Holbein, du hast ein Heldenbild geschaffen, eines Helden der Abgeschiedenheit, und ich fühle mich augenblicklich getröstet, aufgehoben in meiner Leere, beschützt wie von einer Ikone vor finsteren Bahnhofshallen und vor der Zweieinigkeit der Küssenden, die meiner schutzlosen und jederzeit anfechtbaren Privatheit jede Solidarität verweigerten. Ja, Holbein, erst durch dich, so scheint mir, entdecke ich mich in den Qualitäten deiner Darstellung. Die Inszenierung der äußeren Abgeschiedenheit: der dichte, schwere Vorhang, der den Erasmus scheinbar mit Bedacht zwischen sich und die Welt gezogen hat, ist ein Signal, eine Aufforderung, es ihm gleichzutun. Sein hochgeschlossener Mantel, der nur das Gesicht und die Hände dem indirekten, intimen Licht freigibt, sammelt, bündelt alle Energien des Geistes und des Körpers, die sich in dem nach innen gerichteten Blick des Schreibenden offenbaren, der mit fast geschlossenen Lidern zugleich das ganz buchstäblich so dargestellte Handwerk seines Schreibens verfolgt. Denn in einer Vitrine neben dem Bild finden sich etliche Studien zu den Händen, Blätter bedeckt mit immer demselben Motiv ihrer einerseits festen, robusten, zugleich aber auch den Stift und das Papier scheinbar kaum berührenden Fingerhaltung, die Holbein wieder und wieder in ihrer ganzen Präzision eingeübt hat. Ja, und schließlich gelingt es ihm, diese Hände, die etwas durchaus Zupackendes haben, wie die um ein Vielfaches verfeinerten Hände eines echten Handwerkers, in dieser ruhigen, geschlossenen Haltung auf dem Schreibpult zu einer unmittelbaren Entsprechung des zugleich nach innen und außen gerichteten Blicks mit den halbgeschlossenen Lidern zu machen. Dieses Portrait ist weniger eine seiner üblichen Charakterstudien, als ein gemaltes Manifest der Konzentration, die sich mir in all diesen Tagen niemals eingestellt hat. Doch mir vertraut er sich damit an, wie mit dem Inbild einer Vaterfigur.

Die ganze Stimmung dieser Stadt ist verwandelt, als ich aus dem Museum komme und auf dem großen Markt der Altstadt stehe. Die Luft ist rein, das Aufgebot der Sicherheitskräfte verschwunden. Der Platz in der späten Nachmittagssonne ist von Familien bevölkert und hallt von Kinderstimmen wider. Eine seltsame Leichtigkeit liegt in den Bewegungen aller Menschen, und ich schwanke mit dem Glück der Bilder in mir weiter durch die Stadt, die unvermutet eine wahre Kinderseele zeigt. Zugleich graut mir vor der Rückkehr in meine Einsamkeit.

Eine altertümliche Straßenbahn fährt bis zur Endstation in Scheveningen, dessen Name mir nur durch Zeitungsmeldungen bekannt ist, in denen es um das Gefängnis geht, in dem die Inhaftierten des Internationalen Tribunals auf ihren Prozess warten. Ich habe einiges darüber gelesen, aber in diesem Moment interessiert mich nur die Nähe des Meeres, die Fortsetzung der unbeschwerten Freude. Die Bahn ist überfüllt und fährt langsam durch eine weitgestreckte Peripherie von Einfamilienhäusern, erreicht schließlich das überlaufene Zentrum des Seebades, das mit seinen klobigen Hochhausbauten eher mediterran wirkt. Die Bahn endet auf einer Wendeschleife direkt an den Dünen, nicht weit von einem weit in das Meer ragenden Schiffsanleger auf unzähligen hohen Pfählen und mit einem spiralförmigen Turm am Ende, der eher an eine Autorennstrecke denken lässt. Große Menschenmengen sammeln sich unter dem wolkenlosen Himmel, laute Musik dringt vom breiten Strand mit seinen lärmenden Buden und Animationszelten. Die Nordsee bei Windstille ohne Brandung, auf merkwürdige Weise rastlos und still zugleich. Niemand ist hier still, nichts zu sehen von den gewohnten Strandbeschäftigungen, von Kinderspielen und entspannten Körperhaltungen. Stattdessen eilige Händel in kleinen und größeren Buden, Zelten, auf Lagern, wie auf einem großen Strandbasar wird ständig gekauft und verkauft. Ungefähr für zwanzig Minuten wandere ich die Reihen von Ständen und Zelten ab in Richtung Norden. Der Trubel endet bei den alten Geschützbunkern, die in kilometerlanger Reihe halb im Sand versunken auf den Horizont starren mit ihren entleerten Augen- und Mundlöchern und ihren bekritzelten Stirnen. Und ich tue es ihnen gleich, in den letzten wärmenden Strahlen des Jahres, an der stillen See, bei 25 Grad im September.