Schon etwas heikel, die ganze Geschichte. Es gab Zeiten, da redeten wir viel. Ich redete damals mit niemandem. Mit Mona redete ich. Lauter ernsthafte Sachen. Philosophische Gedanken. Haargenau so war ich drauf, mit elf oder zwölf jedenfalls. Damals ging ich fast jeden zweiten Tag zu ihr. Meine Mutter machte sich Sorgen. Sie meinte, Mona hätte schlechten Einfluss auf mich. Mir war das ziemlich schnuppe. Neulich bin ich wieder mal in der Gegend gewesen. Seit einer Ewigkeit. Äußerlich hat sich wenig verändert. Die niedrigen alten Weberhäuser mit schmalen Vorgärten neben fünf- oder sechsstöckigen Mietshäusern. Die von Staub und Abgasen aufgerauten Fassaden. Das Kopfsteinpflaster wellt sich in der Mitte der Straße. Man läuft die Hauptstraße einen Kilometer vom Marktplatz, bis zur ehemaligen Wendeschleife der Straßenbahn. Die Straßenbahn gibt es nicht mehr. Die alten Gleise sind mit Teer ausgegossen. Dort parken jetzt Autos. Links das große wilhelminische Schulhaus, in dem schon meine Eltern und Großeltern zur Schule gegangen sind. Dahinter kommt gleich die Bahnlinie und das krautige Ufer des Flusses. Dahin verirrten wir uns nur selten. In die andere Richtung führen zwei Straßen parallel zum Park, und da ist es. Eine kleine, klar umgrenzte Zone, weder in der Stadt noch außerhalb. Mit diesem Kopfsteinpflaster und den eng stehenden Augen der alten Fenster. In der Erinnerung war mir die Gegend immer riesig vorgekommen. Eine ganze Welt. In Wirklichkeit sind es ein paar hundert Meter in jede Richtung. Einige Läden von damals gibt es noch immer. Als erstes die Kostas alte Kneipe. Ich dachte, mich trifft der heilige Schlag, als ich das Schild sah. Auf der Fensterscheibe pappte eine goldene 40 im Ährenkranz. Aber dieses Jubiläum muss auch schon ein Weilchen her sein. Damals gab es hier viele Griechen. Viele machten Kneipen auf. Gleich gegenüber der nächste. Kosta war immer der Neue, der letzte, der in diese Gegend gekommen war. Ich war bekannt bei allen, wie alle Jungen, die regelmäßig ihre Väter abholten. Ich könnte schwören, die geschlossenen Gardinen waren noch dieselben wie früher. Man konnte sie von unserem Wohnzimmer aus sehen. Sie waren immer zugezogen. Ich meine, welche Kneipe hat heute noch solche Gardinen. Ich näherte mich vorsichtig. Es war wie eine Attrappe meiner Kinderwelt. Aber drinnen saßen wirklich Leute. An der Fensterlaibung klebte eine alte Preisliste, mit handschriftlich eingetragenen Preisen. Tasse Bohnenkaffee eine Mark zehn. Tasse Kaffee Hag einszwanzig. Herrengedeck dreifünfundzwanzig. Draußen standen jetzt dicke BMW, Mercedes und Geländewagen, und hier hing noch diese Preisliste. Wenn mir das vorher jemand erzählt hätte. Wahrscheinlich hätte ich ihn ausgelacht. Andererseits, wer hätte es erzählen sollen? Wem wäre es das wert? Alle anderen sind tot oder haben es vergessen. Ich bin der einzige, der es erzählen könnte.

Irgendwie roch es sogar wie früher, aber da kann ich mich täuschen. Die Leute rauchten nicht mehr denselben Knaster wie damals. Reval, Juno, Camel ohne, RotHändle, das war einmal. Heute rauchen sie Lucky Strike oder rote Gauloises. Einer rauchte auch Bidis. Das Bier aber musste immer noch das gleiche sein wie früher. Wer schenkt bitte sehr heute noch Ratsherren aus! Die Beleuchtung, die Spielautomaten, inzwischen alles digital, aber auf alt gemacht. Hinter dem Tresen stand ein Typ im weißen Hemd und mit nass zurückgekämmten Haar. Um die fünfzig, denke ich. Nicht auszuschließen, dass das Kostas Sohn war. Wir waren nie befreundet, weil er etwas älter war. Ich konnte ihm nie das Wasser reichen damals, daran bestand nicht der leiseste Zweifel. Ich tat nichts, um zu seiner Gruppe zu gehören, die durch die Gegend zog und die Jüngeren vermöbelte. Mir war es schnuppe, wie das allermeiste. Der alte Kost behandelte mich wie ein Familienmitglied, aber das machte er mit allen. Wenn ich kam, um meinen Alten abzuholen, musste ich mich jedes Mal hinsetzen und eine Limo trinken. Eher durfte ich meinen Vater nicht mitnehmen. Die Hausherrin brachte postwendend eine kleine Flasche und ein Glas, unter Gesten mütterlicher Fürsorge. Sie trug einen geblümten Hauskittel, so einen, wie ihn damals die deutschen Hausfrauen anhatten. Meine Mutter eingeschlossen. Daran erinnere ich mich, als stünde sie vor mir. Als Griechin verlieh Kostas Frau dem Kittel jedenfalls eine ganz andere Ausstrahlung. Die Trinkgenossen meines Vaters wussten das nicht zu würdigen. Sie hoben ihre Gläser auf mich. Das war schon peinlich genug. Mein Vater saß immer mit denselben da. Der alte Buschhorn war immer dabei, Atsche Bök und ein Dicker, den alle Hänschen nannten. Über Hänschen regten sich alle auf, weil er immer endlose Reden hielt. Er besaß irgendwo einen Laden, vielleicht einen Zeitungsladen. Jedenfalls wusste er immer Bescheid, immer. Was glaubt er, wer er ist? hörte ich über ihn sagen. Hier solche Reden zu schwingen! Der soll sich nicht größer machen, als er ist! Das hörte man oft. Sich größer machen war lächerlich hier, wo alle klein waren. Ich könnte nicht beschwören, dass es immer dieselben Leute waren. Aber ich sehe sie noch vor mir, die Runde am Tisch. Ihre zwischen Jackenkragen und Mütze eingeklemmten Nackenwülste und die ausgeblichenen Haarsträhnen und verfaulten Zähne und schlechten Gebisse. Jeder strahlte sein höchstpersönliches Unglück aus, gegen das kein Kraut und kein Oldesloer Korn gewachsen war. Und mein Vater war einer von ihnen, und zugleich war er auch anders. Er redete am wenigstens. Schmal und schüchtern. Er öffnete zum Lachen den Mund wie eine Echse, und kein Laut drang heraus. Der Alkohol löste nichts bei ihm. Deswegen brachte ich ihn hinterher auch kaum die paar Meter über die Straße. Steif wie ein Brett. Die anderen waren gelockert. Sie waren schon brüllend in die Kneipe gekommen, hatten ihre Trinklieder angestimmt und der Wirtin als erstes feuchte Küsse aufgedrückt. Mein Alter hielt sich immer im Hintergrund, mit stiller Verachtung, nehme ich an. Das sage ich, weil es mir in diesem Augenblick einfällt. Ich habe nicht vor, hier meine Familiengeschichte aufzuschreiben. Aber an diesen Wesenszug erkenne ich ihn wieder. An diesem Beiseite-Stehen, wenn andere ihre Show abziehen. Nicht nur er, unsere ganze Familie war so. Ich bin es auch, Sohn meiner Eltern. So begegnete ich mir hier also selbst. Zu meiner größten Verwunderung.

Heute saßen sie alle allein herum. Das hätte es früher nicht gegeben. Man musterte mich kurz und ließ  mich in Ruhe. Das mussten die neuen Stammgäste sein. Zu Kosta kam man nie zufällig. Die neue Generation von Nachbarn. Alles gepflegte Kerle, sportliche Typen im Vergleich zu früher. Einer trug Seglerschuhe, ein anderer ein verwaschenes Lacoste-Shirt. Die allermeisten trugen Jeans. Keine verschossenen, verschwitzten Anzüge wie früher. Sie wechselten sicher ihre Klamotten täglich. Mein Vater trug seine Sachen immer wochenweise. Nicht mehr seine Welt. Der Alkohol war heute in jedem Fall stärker als jedes Unglück. Auch die Unglücke haben sich verändert, scheint es.
Ich stand an der Theke, der Wirt stülpte die Gläser über die Bürsten im Spülbecken und ignorierte mich, und alles wartete, dass ich mein kleines Ratsherren austrank und wieder verschwand. Das war in Ordnung, es ging nicht darum, groß aufzufallen. Nach zehn Minuten legte ich zwei Euro auf den Tresen und tat ihnen den Gefallen.

In diesen rätselhaften, verwinkelten Hinterhöfen mit den kleinen Fabriken und Werkstätten war ich früher ständig unterwegs, ständig verjagt. So war es früher. Heute alles ist offen, hell erleuchtet. Lauter großfenstrige Fabriketagen, familiengerechte Wohnungen, Ateliers. Designer, Kulturschaffende. Der Schornstein der alten Wäscherei steht noch, aber nur aus Nostalgie. Der Straßenblick von hier, von dort, eine Ecke, an der ich früher herumgelungert habe, ein dicker Brocken stehender Zeit – so stand ich verloren zwischen den schwarzen Reifenspuren des Kohlehändlers im Schnee. Im Geruch, der aus der Fahrradwerkstatt drang. Der alte Hennings in seinem verdreckten Blaumann stand davor, den sein schmächtiger Körper kaum ausfüllte. Wie ein Geist, mit fleckiger Schiebermütze und Möwenblick und einer zerfledderten Zigarre. So stand er neben den verrußten Treppenstufen, die in seinen lichtlosen Keller führten. Drinnen roch es nach Gummi und Karbid, und  die Fahrradschläuche hingen wie schwarzes Gedärm von der niedrigen Decke. Das sind wahrscheinlich meine ersten Erinnerungen. Nicht dass mich zurücksehne, aber andere habe ich nicht. Ich brachte ihm mein Kinderfahrrad. Es hatte einen Platten, oder die Kette war gerissen. Er nahm es, ohne den Stumpen aus seinem schmalen, lippenlosen Mund zu nehmen, und eine Viertelstunde hatte ich das Fahrrad zurück. Es kostete nichts. Ich war mir immer sicher, dass das Leben, das hier stattgefunden hat, nichts ein zäher Traum war, eine fixe Idee. Ich tat nichts, um daraus aufzuwachen. Es hat eine beruhigende Wirkung, eine eigentümliche Wärme. Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich so lange nicht hingefahren bin. Nichts schlimmer, als wenn die Illusion der Vertrautheit stirbt. Damals redeten alle vom Leben in der Heimat. Sie waren die Davongekommenen. Die halbe Stadt war ein Trümmerhaufen, diese Gegend hier stand noch, weitgehend unversehrt. Am Ende der Straße gab es einen riesigen Betonbunker. Dort hatten sie alle zusammengesessen, und als sie wieder herauskamen und die Häuser noch standen, sind sich alle weinend um den Hals gefallen. So erzählte es meine Mutter. Der Bunker ist inzwischen abgerissen. Für mich gehörte er immer hierher. So wie die Fassaden, die Fenster, die Bäume und das Licht, das durch die Baumkronen fiel und damals genau dieselben Schatten warf wie jetzt. Durch das Gebiet zog immer ein unbestimmter Geruch, das kann ich beschwören. Jetzt war er auch verschwunden. Weder angenehm noch unangenehm. Aber er war immer da.

Mona war nicht unmusikalisch. Ich erinnere mich jedenfalls an ein altes Foto, auf dem sie mit Gitarre zu sehen ist. Schwarz Weiß. Sie muss vierzehn oder fünfzehn gewesen sein. Sie scheint zu singen, nicht lauthals, nicht ausgelassen; eher für sich, während sie ihre Linke vorsichtig zu einem Griff auf die Saiten setzt. Keine Ahnung, wo das Foto geblieben ist. Ich werde in ihren Sachen nachsehen. Ich habe sie nie singen hören, aber in meiner Erinnerung ist ihr Gesang so gewiss wie der Anblick dieser Straße.

Ihr Haus lag nicht weit von unserem, zwei Straßen weiter. Ich kniff die Augen zusammen und musste mich anstrengen, um unter den rausgeputzten Fassaden noch das frühere Antlitz ihres geduckten Hinterhauses zu erkennen. Damals wuchsen zwei kleine Fichten vor ihrem Fenster, die jetzt den ganzen Hof mit ihren Wipfeln verdunkelten. Aber wenn man sich lange genug einlässt, spürt man, dass die Dinge sichtbar oder unsichtbar das Leben speichern,  auch wenn niemand mehr da ist, der einem die Tür öffnet. Solche Sachen meine ich, wenn es um das Wiedererkennen geht, auch von Dingen, die nicht mehr da sind. Ja, ich meine, dass sie ewig bleiben. Ich meine, dass man diese fernen Stimmen immer wieder aufspüren kann. Es muss nur jemanden geben, der sie empfangen kann. Monas Wohnung war klein und lag im ersten Stock. Ofenheizung, Doppelfenster mit morschen, verdreckten Holzrahmen. In der Küche hing ein kleiner Boiler, es gab einen Kohleherd und ein Spülbecken aus Keramik, das ungefähr in Kniehöhe über dem Steinboden hing. In allen Häusern war das so. Das Klo war in der Abstellkammer. Zum Duschen ging sie ins Schwimmbad oder zu Freunden. Es gab eine Klingel an der Haustür, aber wir hatten vereinbart, dass ich klopfen sollte, wenn ich zu ihr kam. Mona war immer misstrauisch. Ich war befangen, voller Ehrfurcht, wenn ich eintrat. Kein Mann durfte in ihre Wohnung Aber als ihr Halbbruder und mit meinen elf Jahren mache sie bei mir eine Ausnahme, wie sie sagte.  Ihr Coming Out hatte sie in Kalifornien. Davon erzählte sie andauernd. Von der Zeit Zeit davor habe ich nur wenige Bilder. Aber meine Bewunderung für sie muss schon aus der Zeit davor stammen, und an der Art, wie ich glaubte, dass die kalifornischen Jahre sie verändert hatten, ermesse ich,  wie meine Erinnerung an sie aus der Zeit davor war. Ihr Misstrauen, das ganze mürrische Beäugen war mir neu, und ich hörte aus ihren Worten ein echtes Bedauern, überhaupt nach Deutschland zurückgekehrt zu sein. War irgendwas schiefgelaufen? Vielleicht hatte sie auch Heimweh nach Deutschland, die sie sich nur nicht eingestehen wollte. Aber das ist unwahrscheinlich. Sie saß also wieder in diesem Deutschland, das sie depressiv machte, wie sie sagte. Sie erzählte immer eine Menge von Kalifornien, wenn wir erstmal zusammensaßen. Das Ganze wirkte wie ein großes konspiratives Geheimnis. Etwas unheimlich. Sie zeigte Fotos von ihren Freunden, oder welche, die ihre Freunde dort von ihr gemacht haben. Auf einigen war sie mit geöffnetem Hemd zu sehen, darunter kamen ihre nackten Brüste zum Vorschein. So stand sie lachend in der kalifornischen Sonne. Sie machte keine Anstalten, diese Fotos zu verbergen. Es schien ihr egal zu sein. Oder sie wollte mich überzeugen, auch nach Kalifornien zu gehen. Es gab auch andere Aufnahmen, vom Dunst über der San Francisco Bay. Die Golden Gate Bridge war im Dunst fast verschwunden, und anscheinend durchdrang er die ganze Stadt, die Straßen, die Häuser, die Wohnungen. Sie steckte sie sich einen Joint an, und der Qualm vereinte sich mit dem Geruch ihrer Wohnung, den säuerlichen Ausdünstungen ihrer Kleider und der leichten Fäulnis, die aus dem Treppenhaus drang, und damals dachte ich, sollte ich jemals im Dunst der Golden Gate Bridge stehen, so würde mir exakt dieser Geruch in die Nase wehen. Ich redete auch immer mehr, als ich wollte. Es war mir peinlich, doch ich konnte nicht aufhören. Sie bremste mich auch nicht, sondern hörte zu, sagte manchmal etwas, und ich fühlte mich sogar verstanden. So ungefähr sah das Klavierüben bei ihr aus. Irgendwann sagte sie, dass jetzt auch das Klavier dran sei, setzte sich neben mich auf den Hocker und achtete darauf, dass ich nichts ausließ.