Die Ironie ist keine amerikanische Erfindung. Doch was wäre das Zeitalter der Ironie ohne Amerika?

Mit der Mayflower kam auch das Fernsehen über den Atlantik, heißt es ironisch bei Don DeLillo. Gemeint ist die „amerikanische Sehnsucht nach der universellen Dritten Person“ – nach dem großen weiblichen oder männlichen Ego, das man sich vor dem Fernseher, im Kino, in den Games erträumt. Um 1620, zu Mayflower-Zeiten, musste man sich noch mit Siedlerreisen begnügen und hoffen, dass in der Neuen Welt das alte Europäische Ich endlich abstirbt.

Heute sind die Gadgets für die Auswahl der gewünschten Rollen leichter zur Hand, und schneller. „Real“ zu sein in Amerika, das heißt die Rolle eines bodenständig-realen Ichs zu spielen, ohne es für ganz voll zu nehmen. „Wahre“ Ichs gibt es eben nur noch im alten Europa, das inzwischen zur Metapher verblasst ist für alles, was man schon immer hinter sich lassen wollte. Nicht von ungefähr reklamiert so ziemlich jede gutbürgerliche Familie Neuenglands für sich, von einem Passagier der Mayflower abzustammen, als wäre es ein Makel, nicht früh genug ausgewandert zu sein.

Ein Ich darzustellen, um damit die andere Seite, die man hinter sich lassen möchte, abzuspalten, wissend, dass man sie trotzdem weiter mit sich herumschleppt – darin besteht aber nun einmal das Grundprinzip von Ironie. Denn der Spott des Ironikers trifft immer das Andere an ihm selbst, den Schatten, den er nicht los wird und der zugleich die Bedingung der ironischen Möglichkeit ist. Denn Ironie ist der Grenzfall, der spielerisch verzierte Eingang zur Spaltung, zur Schizophrenie. Der Ironiker ist der geistige Borderliner, der keinen Schmerz mehr kennt in seiner spielerisch zur Schau getragenen Selbstverstümmelung.

Ironie verlagert das Pathos der eigenen Geschichte in den Bereich des Rollenspiels, der sozialen Strategieplanung vor dem Wandspiegel. Universale Gesetze akzeptiert sie nur noch als Zitat. Amerikanisch sein wollte die abendländische Welt in dieser Hinsicht schon, bevor es jenes Amerika überhaupt gab, das nachträglich zum Sündenbock für die Existenz all dieser Selbsterfindungs-Sehnsüchte erklärt werden konnte.

Demnach läge das fransenhafte Beginnen des Ironischen Zeitalters mit dem des sogenannten „Zeitalters des Bildes“ historisch gleichauf. Wobei mit dem Zeitalter des Bildes das heutige, gegenwärtige gemeint sein soll – mithin dasjenige, das Bilder weitgehend bedeutungslos gemacht hat. Denn dem Bild geht es in diesem Zeitalter genau wie dem amerikanischen Ego. Ein Bild, das erscheint und sich überall als Kopiervorlage für alle möglichen lebensnahen Situationen anbietet, also sein Bild-Sein behauptet, muss zugleich seine Realität, seine Bedeutung hinter der Oberfläche möglichst negieren und hinter sich lassen. So sind Medienbilder. Ihre Strahlen führen nirgendwo hin, aber dass das Publikum in ihrem Anblick stets bereitwillig seinen Willen zur Sinnstiftung ergänzt, um sich von ihnen hypnotisieren zu lassen, ermöglicht diesen Bildern erst ein, pardon, kulturelles Sendungsbewusstsein.

Ein Bild mit Schatten, mit einem bedeutungsdräuenden, raunenden „Dahinter“ erscheint daran gemessen wie ein Leben in der vierten Dimension – auf zwei historisch auseinandergedrifteten Kontinenten zugleich. Auch in dieser Hinsicht erweist sich die Entwicklung der technischen Virtualität als Gadget eines alten Wunsches, ein „relatives“ Leben zu führen, in dem man sich ungestört in Echtzeit aufspalten kann. Virtualität wäre in ihrer technischen Umsetzung damit nur die zweite Ableitung der vorausgegangenen Bedeutungsabspaltung.

Nietzsche, obwohl lange nach den Siedlern der Mayflower geboren, war wohl der erste, der das Denken des bedeutungslosen ICH-Bildes konsequent vorexerziert hat. Um ein Sprachbild wie „Gott“ überhaupt noch anzuwenden, musste seine Bedeutung negiert und in diesem Fall mit Hilfe einer schlichten Inversion gelöscht werden, indem „Gott“ für endlich, für „tot“ erklärt und damit zum Nullbegriff wird. Nietzsches Ironie ist gewissermaßen praedadaistisch.

Gott, in eine unendliche Negation verwandelt, zieht die Lust am Verlust-Schmerz auf sich. Nietzsches ironische Lehre wirkt entdeckerisch, sie betritt denkerisches Neuland, wie einst die weit gereisten Siedler. Sie ist noch nicht im Gelände geübt, noch nicht erfahren genug auf ihrem Terrain, sie strauchelt; Nietzsches Performance war noch nicht cool, alles andere als das: Sie war sich selbst nicht geheuer und dadurch noch Quelle wahrer, unkontrollierbarer geistiger Leiden. Nietzsche lebte die Ich-Negation geradezu vor, indem er in langjährige Umnachtung fiel. Gerade die Heftigkeit seiner sprach-neurotischen Grenzsituationen, in der die Aussage „von etwas“ direkt neben der Aussage „von nichts“ steht oder das eine in das andere ohne weiteres übergeht, macht ihn aber zu einer Figur mit der exemplarischen Grunddisposition, die das ironische Zeitalter auszeichnet. Und wie soll man sich wehren gegen diese Ironie der paradoxalen Gleichzeitigkeit? Hat die Ironie ein Schicksal, Fate of Irony, oder dient sie gerade dazu, Schicksal zu beseitigen und ist dadurch unser Schicksal am Ende gar die Ironie?

Sein explizites nervliches Leiden unterscheidet Nietzsche zumindest in der Konsequenz seines Denkens wesentlich von den allermeisten seiner heutigen coolen Töchter, Söhne und Enkel im Ironischen Zeitalter. Aber seine Voraussetzung, dass man sich auf keine Sprachfigur und kein Bild mehr beziehen kann ohne diese ironische Distanzierung, ohne die selbstgängige Negation oder Explosion von Bedeutung, haben sie und wir alle nach wie vor mit ihm gemein. Obwohl Ironiker immer für unberechenbar und daher für potenziell gefährlich gehalten werden, ähnlich wie Schizophrene, verdeutlicht Nietzsches Beispiel zugleich, dass die Ironie nur unter erheblichem Druck zustande kommt – mag dieser Druck einer äußeren, historischen oder einer inneren, psychischen Situation entspringen: Innen und außen haben gerade hier fließende Grenzen.

Wenn ich keinen Kommunikationspartner mehr zu finden glaube, weil mir die Semantik meiner Sprache, meiner bisherigen Zeichen, nicht mehr abgenommen wird; wenn mir scheint, dass mir kommunikativ der Atem abgeschnitten wird, entwickle ich, sofern ich mich nicht stumpf ergebe, eine Strategie kommunikativen Überlebens.
Wenn mir das Wasser der Isolation bis zum Hals steht, kommuniziere ich in der Sprache des Wassers – ahnend, dass ich sie nie beherrschen werde. Aber diese Sprache umgibt mich, es scheint ihr egal zu sein, wer sich ihrer annimmt, und ich habe nicht die Aussicht und überhaupt auch nicht den Gedanken, mit ihr einen Aufstieg zu machen. „Ich“ will schließlich nur kommunikativ überleben. „Ich“ assimiliere „mich“, verwandle „mich“ an, wissend um „meine“ bleibende Andersheit, Fremdheit. Das Wasser ist nicht „mein“ Element, aber gerade dieses „Nicht-Ich“ prägt meine Form der Kommunikation. „Ich“ springe über „meinen“ Schatten, „ich“ lasse ihn hinter „mir“, „ich“ werde ihn aber dennoch nicht los. Ein Teil meines untauglichen Vorlebens verfolgt „mich“, und „ich“ muss „mich“ darauf beziehen. Es zieht „mich“ sozusagen an den Beinen hinunter. Das ist die Geburt des Ironikers, des Strategen der Flucht, der es schafft, mit einem Klotz am Bein zu schwimmen.

Die soziale Kultivierung der Ironie zeugt von Erfindungsgabe, mit derart klotzigen Missständen umzugehen und das metaphysische Überlebensleiden locker zu überspielen. Technologie ist ein guter Weg. Der Sinn technologischen Fortschritts in den sogenannten westlichen Kulturen besteht im Wesentlichen in dieser Prothesenfunktion. Sie ist mittlerweile aber weit über den westlichen Rahmen hinaus gefragt. Das nennen wir Globalisierung.

Das Fernsehen ist eine museale Ikone dieser Kulturtechnologie, kurz davor, das bedeutungslose, omnipräsente Bild, ohne das nichts real ist, an das Web 4.0 abzutreten. Ironiegetränkte Maßnahmen, Prothesen, die als solche nicht mehr greifbar sind; Kultur-Technologie, selbst-imitativ, lustbringend und selbstreferenziell bis in die fünfte, die zwanzigste Ebene plus unendlich. Manchmal scheint es, als vollzöge die Gegenwart nur, was sie sich von der jüngeren Kunstgeschichte abgeschaut zu haben meint: Pop Art als medial multiplizierter Lifestyle. Dann sieht es so aus, als liefe das, was wir uns Kunst zu nennen angewöhnt haben, ihren eigenen Schatten hinterher, um die Schatten der Bilder wiederzufinden, sie einzufangen und sichtbar zu machen und das Wissen um die nervlichen Leiden an der unausweichlich voranschreitenden Aufspaltung der Bedeutungen nicht zu verdrängen.

Schwankend ungewiss zu bleiben, zum Gegenbild einer schattenlosen Ironie der Bilder zu werden – das wäre nicht die schlechteste Rolle einer heutigen Kunst. Wir wissen ja nicht, was kommt.