Sie kam als eine der letzten, als sich die Menge der Wartenden vor dem Gate schon aufgelöst hatte. Sie lächelte kurz, als sie ihn sah, und entschuldigte sich, weil ihr Gepäck so lange gebraucht habe. Das klang formell, und so sollte es wohl auch sein. Als erstes fiel ihm auf, dass ihr Gesicht hagerer, kantiger wirkte als vor Wochen, bei seinem Abschied in Berlin. War sie krank? Hatte sie gehungert? Oder war es ein Ausdruck von Strenge, Entschlossenheit? Sie wollte sich nicht umarmen lassen. Alle überflüssigen Gesten konnte er sich sparen. Er nahm ihre Reisetasche, das war eine praktische Handreichung – und sie durchquerten unter seiner Führung schweigend die Flughafenhalle und gingen hinüber zum Parkplatz. Anette kauerte sich auf den Beifahrersitz, entledigte sich ihrer Schuhe und stützte ihre nackten Füsse gegen das Handschuhfach, während er den Wagen langsam auf die überfüllte Ringstraße manövrierte. Obwohl es der Silvestertag war, war es mild, vom Mittelmeer kam eine warme Brise herauf und brachte feuchte Luft mit. In den letzten Tagen hatte es weiter oben in den Bergen Gewitterstürme und heftigen Regen gegeben. Er betrachtete Anette von der Seite: Ihr Blick war starr in die Ferne gerichtet, auf die unruhige Linie des Horizonts, über der bereits die Dämmerung aufzog.
Sobald sie die Stadt hinter sich hatten, beruhigte sich der Verkehr. Dann, als sei sie plötzlich aus dem Halbschlaf erwacht, fragte sie, ob es noch lange dauere, bis sie ankämen. Wohin sie überhaupt führen.
Siebzig, fünfundsiebzig Kilometer, antwortete er. Aber wir sollten es vor Einbruch der Dunkelheit geschafft haben.
Das ist weit, sagte sie.

Sie hatten ein paar Mal miteinander telefoniert, seit er hier war. Er hatte ihr von dem Haus erzählt, von dem abgelegenen Dorf, in dem er untergekommen war. Hatte sie es wieder vergessen? Ihre Worte kamen zäh und gedehnt. Er spürte ihren Widerstand. Warum bist du überhaupt gekommen, hätte er sie am liebsten gefragt, aber er schwieg lieber.
Etwas Merkwürdiges ist passiert, sagte er schließlich. Heute Nacht musste ich an einen alten Freund denken. Das heißt, eigentlich sind wir nicht mehr befreundet. Wir haben uns auch nie getrennt, es ist vor Jahrzehnten einfach auseinandergegangen, und keiner hatte das Bedürfnis, sich beim anderen wieder zu melden. Im Grunde hatte ich ihn völlig vergessen.
Was hast du denn nun geträumt? fragte sie.
Dass wir zusammenlebten in einer Wohnung. Wir haben nie zusammen gelebt, aber in dem Traum war es so. Da waren wir seltsam vertraut, wie ein altes Ehepaar. Eines Tages kam er an und wollte mich schminken. Er wollte einen Film drehen, und ich sollte mitmachen. Ich weiß nicht warum, aber mir erschien das im Traum völlig selbstverständlich. Nun, da steht er also hinter mir und beginnt mir mit riesigen Händen eine weiße Masse auf das Gesicht zu schmieren. Ich kann in einem Rasierspiegel beobachten, wie er außerdem meine Augen und meinen Mund mit einem rötlichen und einem schwarzen Schminkstift ummalt. Stundenlang modelliert er an meinem Gesicht herum, aber am Ende sieht alles wüst und verwischt aus. Natürlich frage ich ihn, was das solle, und warum er gerade mich für diese Rolle ausersehen hätte. Ich frage so etwas wie: Warum spiele ich nicht einfach meine Rolle, die ich immer spiele, und du spielst wie immer deine als Regisseur?
Und, was antwortet er?
Nichts. Stattdessen befielt er mir, mein Hemd ausziehen, und ich gehorche. Dann läuft er auf dem Wohnungsflur im Rückwärtsgang vor mir her und imitiert mit seinen Händen eine Kamera.
Er gibt mir Anweisungen wie: „Jetzt einen Gang wie Anthony Quinn im Glöckner von Notre-Dame.“ Oder „den Gang eines Affen“. Und ich keuche und bemühe mich, mein Gesicht nach Kräften zu einer hängenden Grimasse zu verziehen. Ich lasse meine linke Hand auf dem Boden schleifen und kenne keine Hemmungen, möglichst äffisch wirken zu wollen. Mein Freund lobt mich und feuert mich an. Er ist regelrecht euphorisch. Ich sei unvergleichlich, schreit er, genial geradezu. Er lacht vor Begeisterung und zerrt mich hinaus durch das Treppenhaus auf die Straße. Passanten bleiben stehen und klatschen Beifall. Genial, rufen sie. Gilt der Beifall nur mir oder uns beiden? Die Menge wird größer, und mein Freund raunt mir zu, alle wollten uns sehen, wir sollten weitermachen. Jeden Tag wird es eine Aufführung geben, und da ich nichts anderes zu tun habe, bleibt es dabei.

Das ist alles? fragte Anette nach einer Pause.
Ja. Mehr erinnere ich nicht.
Ein typischer Traum für dich, befand Anette.
Er schwieg. Die Straßen wurden enger, je höher sie kamen, und er tat, als beanspruche das Lenken seine ganze Konzentration. Tatsächlich waren durch die Regengüsse der letzten Tage überall  kleine Erdrutsche niedergegangen und versperrten mitunter auch die Straßen. Man musste sich vortasten, plötzlich anhalten, dem Gegenverkehr in Kurven ausweichen oder an Engpässen die Vorfahrt lassen.

Roberte und Michel, seine beiden Freunde, hatten ihn eingeladen, für ein paar Wochen hierher zu kommen, in der Einsamkeit zu schreiben und dabei ihr Haus zu hüten, während sie auf einer wissenschaftlichen Auslandsreise waren. Ursprünglich hatten sie zu zweit kommen wollen, aber seit dem Sommer hatten ihre Auseinandersetzungen an Schärfe und Erbitterung zugenommen und waren in Anettes Entschluss kulminiert, zuhause zu bleiben, während er wie ausgemacht nach Südfrankreich fahren sollte. Sie hatte ihn geradezu gedrängt, seine Verpflichtung gegenüber seinen Freunden wahrzunehmen. Dass sie ihn nun dennoch hier aufsuchte, war ihre spontane Entscheidung gewesen. Erst vor drei Tagen hatte sie sie ihm am Telefon eröffnet. Zwar hatte sie auch gefragt, ob es ihm recht wäre, aber er hatte gespürt, dass dem Entschluss eine lange Überlegung vorausgegangen war. Er war zwiegespalten, wusste nicht, ob er sich darüber freuen oder sich fürchten sollte. Der Aufenthalt in dem Haus hielt nicht, was er sich davon versprochen hatte. Es war ein altes Gemäuer, das seine Freunde mühsam renoviert hatten, mit einem feuchten, schlammigen Garten inmitten eines halbverlassenes Dorfes, vollgestopft mit kuriosen Fundsachen aus aller Welt, die seine Freunde von ihren Reisen mitbrachten und offenkundig hüteten wie Schätze. Er fühlte sich unwohl in dem Haus, vereinsamt. Er hatte oft an Anette gedacht. Vielleicht versprach ihre Ankunft Linderung, vielleicht hatte sie nachgedacht und wollte einen Neuanfang. Er wusste nicht, was sie beabsichtigte, was sie sich vorgenommen hatte. Er war zu stolz, sie zu fragen; zu eitel, ihr seine kindliche Sehnsucht zu offenbaren, dass alles gut werden und seine Fehler und Kränkungen ihm verziehen würden.

Du wohnst ja weit vom Schuss, sagte Anette in das Nölen des Motors hinein. Als habe sie nicht damit gerechnet. Als habe sie ihm nicht zugehört, als er ihr mehrmals die Gegend und die Lage des Dorfes beschrieben hatte.
Wer verirrt sich in diese Wildnis?
Jetzt hast du dich hierher verirrt, antwortete er lächelnd.
Aber nicht von allein, gab sie zurück.
Nicht von allein? Machte sie ihm den Vorwurf, hierher geraten zu sein?
Sie machte Entschlüsse, dann schob sie ihm die Verantwortung zu. Eine alte Gereiztheit loderte in ihm auf. In der Einsamkeit hatte er neue Kraft gesammelt, aber er war keine Auseinandersetzungen mehr gewohnt. Er musste auf seine Gedanken achtgeben.

Sie erreichten La Sûreté, als es schon dunkel war. Die Stille beim Aussteigen fiel ihm auf, so als habe sie in Anettes Anwesenheit plötzlich etwas Bedrängendes, Herausforderndes. Er entfernte sich ein paar Schritte vom Auto, reckte sich demonstrativ lang. Am Abendhimmel waren alle bekannten Sternzeichen zu erkennen, ohne dass man sie einzeln zusammensetzen musste.
Ich sterbe vor Hunger, rief Anette.

Im Haus öffnete er eine Flasche Wein und tischte auf, was er vorbereitet hatte: frisches Brot und Käse, Obst und Salat und eine Gemüsesuppe, während Anette durch das Haus streifte und die Zimmer begutachtete. Als sie zurückkehrte, lag ein Anflug spöttischer Gewissheit auf ihrem Gesicht.
Gefällt es dir nicht? erkundigte er sich.
Eigentlich wusste er um ihre Wahrnehmung. Sie sah, was er sah. Es war kein Ort zum Bleiben. Aber das war irrelevant. Sie war nicht zum Bleiben gekommen.
Sie hockte sich an den großen Tisch und schien über eine Antwort nachzudenken. Aber eine Antwort wäre ihm schon fast peinlich. Deswegen beeilte er sich, selbst zu reden.
Er erzählte über die Landschaft, die Geschichte der Region. Er beobachtete sie, und als sie keine Reaktion zeigte, weder interessiert noch gelangweilt, wurde er mutiger, wollte sie herausfordern.
Was machen wir mit dem Abend, gab er keck von sich. In zwei Stunden ist Neujahr. Wenn gute Sicht ist, können wir auf einem der Hügel das neue Jahr begrüßen, mit tollem Blick über das Tal.
Mir ist nicht nach Feiern, erwidert sie.
Wonach ist dir? Ich passe mich an, wenn du mir sagst, was du willst.
Ihr Appetit schien verflogen zu sein, sobald er zu sprechen begonnen hatte. Sie schien in grüblerischer Stimmung versunken. Vielleicht wartete sie auch auf etwas, auf irgendeinen Moment, auf ein Signal. Vielleicht wusste sie selbst nicht, worauf sie hinauswollte. Was sollte er so mit ihr anfangen?
Er aß zuende, dann stand er auf, um den Tisch abzuräumen. Sie zog sich auf das Sofa im Wohnzimmer zurück und schaltete den Fernseher ein. Es lief der französische Jahresrückblick. Während er den Abwasch erledigte, hörte er aus der Küche, wie sie die Programme wechselte und schließlich ausschaltete.

Vor dem Küchenfenster nichts als die schwarze, feuchte Luft. Kein Licht aus dem Ort, von der Straße. Eigentlich war es eine Landschaft zum Sterben. Warum fiel ihm das jetzt erst so klar auf?
Er dachte an seine Runden, die er jeden Tag um das Haus und das Dorf gedreht und die er immer weiter ausgedehnt hatte, um dem Gefühl zu entgehen, zu früh in die Einsamkeit des Hauses zurückzukehren. Er spazierte ja täglich den felsigen Weg hinter dem Wildbach hinauf, über verlassene Obst- und Nussbaumplantagen, auf deren Wiesen noch die fauligen Früchte des Herbstes lagen; weiter hinauf zum verwaisten Parkplatz am Ende des Dorfes, auf dem sich allein ein weiß gestrichener Container befand, in dem die lokale Polizeistation untergebracht war, und darüber hinaus, wo die Wege im dichten Dunkel der Hänge verschwanden. Er schlief in La Sûreté länger als zu Haus, wahrscheinlich die beste Möglichkeit, um sich vom Haus und der Umgebung abzulenken. Vom Sofa aus starrte er oft zum Fenster hinaus und beobachtete die Veränderung des Lichts, das Ziehen der Wolken, das Kommen und Gehen von Wetterlagen. Sein Zeitgefühl hatte sich verändert. Er lebte nach dem Stand der Sonne, des Mondes und der Sterne.

Er hatte das Bedürfnis, mit ihr zu reden und setzte sich mit einer Kanne Tee zu ihr. Ihnen fiel noch immer nicht viel mehr ein als Belanglosigkeiten. Anette erzählte von irgendwelchen Briefen, die in Berlin für ihn angekommen waren; sie redeten über das Wetter, das Wetter hier und dort. Anette klagte, dass sie nie wisse, was sie anziehen solle, und dass sie in Berlin ständig Kopfschmerzen habe.
Viel besser ist es hier auch nicht, entgegnete er. Es regnet oft. Der Garten ist feucht, und abends muss man sich umziehen, weil die Kleider klamm sind. Es gibt hier keinen Schnee im Winter, auch auf den umliegenden Bergen nicht. Stattdessen überall Feuchtigkeit, die die Wände der Häuser durchsetzt.
Verlockend, antwortete sie spöttisch. Ich bin froh, wenn ich wieder abreise.
Aber jetzt bist du hier. Wir haben zu lange nicht mehr miteinander geredet. Du fragst nicht einmal mehr, was ich hier tue, wie es mir geht. Wir verlieren uns aus den Augen.
Das fällt dir früh auf!
Ja, das fällt mir auf. Meine Abreise, die Umstände, das war doch der Tiefpunkt. Wir geben unseren Plan einfach auf, dass wir die Zeit hier gemeinsam sein wollten.
Es ist schon halb zwölf…! Sie sprang auf und marschierte im Zimmer herum.
Lass uns gehen. Ich brauche frische Luft.

Sie liefen zum Ende der Dorfstraße und dann die enge Landstraße, die die Hügel hinaufführte. Er kannte sich nicht gut aus in der Dunkelheit, aber nach einer Viertelstunde kamen sie an einen Aussichtspunkt, von wo aus die wenigen Lichter in der Landschaft zu sehen waren. Es war stürmisch. Hinter einem gegenüber liegenden Hügel stiegen im Abstand einiger Minuten lautlos rote oder grüne Kugeln auf oder kleine, schimmernde Fontänen, die sofort abgetrieben wurden. Er holte eine Sektflasche aus seinem Rucksack. Sie stießen mit Plastikbechern auf das neue Jahr an, umarmten sich und standen eine Weile wortlos und unschlüssig da, während sie tranken. Weil es kalt wurde, setzten sie sich wieder in Bewegung und gingen zurück.
Im Wohnzimmer ließ sich Anette auf einen Stuhl fallen und blickte umher. Er trat neben sie und strich ihr über das Haar und die Wange und gab ihr einen Kuss.

Es riecht eklig hier, sagte sie. Ich frage mich, wie du es hier aushältst.
Sie schaute sich um. Wo schläfst du? Da oben in dem großen Bett? Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich das Zimmer dort oben nähme?
Die Frage hatte er vorausgeahnt. Am Morgen hatte er das Bett oben frisch bezogen, danach eine Zeitlang auf der Kante gesessen und den leicht abgestandenen Geruch der Bettleinen eingeatmet. Ihre erste Prüfung würde hier stattfinden, in diesem Raum  – so hatte er gedacht. Ob es ihnen gelänge, hier miteinander zu bleiben.
Das alles erschien ihm jetzt wie die Szene aus einem Film, der schon zu Ende war, und ihre Aufgabe war es, ihn fortzusetzen, weiterzuspielen, bis zum vorgeschriebenen Ende.
Jetzt zeigte sich, dass alles ganz einfach war. Er blieb an der Zimmertür stehen, während sie ihre Sachen mit gekünstelter Sorgfalt auspackte.
Ich bin wirklich hundemüde, sagte Anette. Ich hoffe, es macht dir nichts aus. Sie hielt inne und lächelte ihn an.
Er trat ins Zimmer und packte seine Sachen, nahm seinen Koffer und wünschte ihr eine gute erste Nacht.
Sie wartete, bis er die Tür von außen zugezogen hatte.