Vieles ereignet sich ohne Worte. Viele Menschen brauchen eine starke Hand, einen Bändiger. So jedenfalls hatten es ihm seine Lehrer vorausgesagt. Diese Rolle fiel Martin schwer. Ruhig und besonnen wollte er sein – ein Erklärer, kein Bändiger. Doch das funktionierte nicht immer.

Wenn einer seiner Klienten die Kontrolle verlor, außer sich geriet, aggressiv wurde, gegen sich selbst oder andere zu wüten begann, hatte Martin in den ersten Jahren noch Sitzungen abbrechen müssen. Oft hatte er an seiner Eignung für den Beruf des Therapeuten gezweifelt. Niemand machte ihm Vorwürfe. Aber er spürte, dass es an ihm lag.

Viele kommen, ohne die Methode zu verstehen. Sie haben nur davon gehört, und das reicht ihnen, um eine kostspielige Einzelsitzung mit ihm zu vereinbaren, anstatt sich zunächst in einem Gruppenseminar zu orientieren. Sie verzichten auf alles, was einen vernünftigen Kunden auszeichnet. Sie informieren sich nicht über das Produkt, die Dienstleistung, die sie zu erwerben gedenken. Sie haben es nicht einmal nötig, zu einem der offenen Einführungsabende zu kommen. Sie gehen sofort aufs Ganze. Sofort das Maximum, die oberste Stufe, die Premiumklasse, so denken sie im Glauben, dass nur das Teuerste auch am wirksamsten hilft. Dann nehmen sie sich einen Tag frei von ihrer Arbeit, bestellen ihn zu sich nach Hause, wo sie sich unbeobachtet wähnen und erhoffen sich ein Wunder. Ja, für einen Wunderheiler halten sie ihn. Doch die Methode trifft sie dann unvorbereitet mit voller Wucht. Es hat keinen Sinn, sie zu den Einführungsseminaren zu zwingen. Viele zeigen Zertifikate von anderen Anbietern vor. Doch wenn sie ihn dann nach dem Ende der Sitzung flehend und verständnislos vor ihm hocken, ihn anstarren, weil es ihnen noch schlechter geht als je zuvor, weiß er, dass sie nichts verstanden haben. Doch von ihm wird erwartet, dass er ihnen jesusgleich die Hand auflegt.

In den letzten Jahren hat er gelernt zu schweigen, abzuwarten, wenn man ihn bestürmt; ihre Vorwürfe zu überhören, ihre Flüche und Verzweiflungsausbrüche; wenn sie ihn hysterisch anschreien: „Diese Hölle soll erst der Anfang sein? Wollen Sie mich verarschen, Sie Scharlatan? Was haben Sie aus mir gemacht, Sie Teufel?“
Er selbst versteht die Wirkung der Methode nicht immer. Allein die eigenen Erfahrung bestätigt sie wieder und wieder. Wenn er versucht, sie zu erklären, stößt er an die Grenzen der Sprache, und eigentlich will es auch niemand hören. Es ist zu kompliziert, es setzt zu viel voraus, zu viel Erfahrung mit der menschlichen Natur. Nur die Lehrenden selbst erahnen das Geheimnis. Aber auch sie nähern sich diesem Geheimnis immer nur an.
Ja, er ist routinierter geworden – auch wenn ihm das Wort nicht gefällt. Viele Situationen ähneln einander. Viele Fragen klären sich von ganz allein, sei es durch Einsicht, durch Vergeblichkeit oder auch durch seinen neu gewonnene Autorität. Es hat seit Jahren keine schwerwiegenden Zwischenfälle mehr gegeben – wenigstens keine, die er nicht hätte lösen können, seit er sich nicht mehr verantwortlich fühlt für das Unglück der anderen.

Er hat gehört, dass seine früheren Lehrer ihn mittlerweile kritisieren, weil er ihren Lehren eigene hinzugefügt und sie dadurch verändert habe. Das zeigt ihm, dass er sich entwickelt hat; dass sie seinen Erfolg anerkennen. Er ist selbstbewusst genug, zu erwidern, dass seine Veränderungen ihre Lehre verbessern. Starre Lehren helfen keinem. Heilen ist keine Religion.  Viele sind seither aus den Kursen der Lehrer in seine hinübergewechselt. Die Nachfrage hat in letzter Zeit die Zahl seiner freien Plätze und Termine übertroffen. Er hat davon gehört, dass sich in seinen Seminaren Paare gefunden hätten. Neugeborene Kinder tragen seinen Namen.

Das große Sommerseminar auf Kreta ist der Höhepunkt eines jeden Heilungsjahres. Mit den Teilnehmern ersteigt er einen von knorrigen Büschen bewachsenen Höhenzug hinauf zu einem Felsplateau hoch über der Großen Ardana-Schlucht, die steil zum Meer hin abfällt. Sie bilden einen Kreis; Namen und Aufgaben werden zugeordnet. Jeder hat eine Frage, zu denen sich die anderen in wechselnden Konstellationen aufstellen und dann, je nach Verlauf der Geschichte, die der Fragende vorträgt, Zug um Zug ihre Positionen wechseln. Zögernd noch am ersten Tag, weil sie die neuen Rollen erst einüben müssen; doch schon bald bewegen sich alle wie selbstverständlich zu jeder einzelnen Geschichte, wie von unsichtbarer Hand gelenkt.
Einer tritt dem anderen plötzlich nah, berührt ihn, und der andere, der den fremden Atem und Blick auf sich spürt, kann sich nicht entziehen. So steht Georg jetzt direkt vor Agnes. Sie vermag sich nicht zu regen, obgleich sie ihm eigentlich hatte ausweichen wollen. Nun aber erscheint sie wie gelähmt. Sie wendet sich ab, will ihn nicht ansehen. Er aber brüllt: „Schau mich endlich an!“ und hält seinen Zeige- und Mittelfinger zum V gespreizt auf seine aufgerissenen Augen gerichtet. „Schau mich an! Du gemeine… verachtenswerte…!“ Seine Stimme überschlägt sich, er bringt seine Worte nicht zu Ende.
Auf dem äußersten Kulminationspunkt einer Situation greift Martin ein und löst sie auf. Er tritt in die Szene, beruhigt die Aufgebrachten und Verängstigten. Anschließend befragt er in Einzelgesprächen zuerst Agnes, dann Georg. Doch beide sind noch zu sehr in ihren Rollen befangen um zu antworten. Martin klatscht laut in die Hände, und auf sein Kommando lösen sich alle aus ihrer angespannten Haltung, schlendern umher, schütteln ihre Gliedmaßen aus. Wasserflaschen und Brote werden aus Rucksäcken gezogen. Nur Agnes steht abseits, und für einen Moment wirkt es, als würde sie tatsächlich zusammensinken. Martin stützt sie mit einer Umarmung und richtet sie sofort wieder auf. Agnes bittet ihn, zur Pension zurückwandern zu dürfen, aber er antwortet, es sei besser, wenn die Gruppe zusammenbliebe. Sie könne sich aber hier eine Pause nehmen, so lange sie wolle. Agnes sieht ihn scheu an und lässt sich schließlich etwas abseits in das trockene Gras fallen, mit dem Blick weit hinaus auf das Meer.