Rio ist ein Spielfilm. São Paulo ein Dokumentarfilm.
Arnaldo Jabor

I

Wer aus einem anderen, glücklichen Stadttraum kommt,/ lernt schnell, dich Realität zu nennen. So sang Caetano Veloso in seiner berühmten Ode an Sampa, die hässliche Megapolis, die schon längst keine Polis mehr ist. Kein fader Mythos eines neuen Ilion oder Rom wird hier geschrieben. Zu Fuß durchwandere ich ihr ausgemergeltes Inneres wie einen gestreckten und zergliederten Leib mit seinen zahllosen toten und noch lebenden Flecken.

Es heißt, daß Rio im ewigen Wettstreit der beiden Metropolen São Paulo kaum etwas so neide wie diese schüchterne Hymne Caetanos, in der er bekennt, vom schlechten Geschmack, den São Paulo verkörpere, zunächst abgeschreckt worden zu sein – dann jedoch, nach und nach, die wahre Schönheit hinter der harten, konkreten Poesie der Straßen zu erkennen.

Zu Beginn scheint es mir wie Caetano zu ergehen auf seinen ersten Streifzügen, ich bewege mich langsam, zögernd durch die verschlungenen Quartiere; frage mich, was ich sehe, und habe nichts verstanden.

Der andere, kaum glücklichere Stadttraum, aus dem ich komme, lehrte mich einen anderen Begriff von Stadt, und einen anderen Begriff von ihrer Zerstörung.
Die Atmosphäre verändert sich alle paar Straßen. Heruntergekommene, fast menschenleere Blocks neben überfüllten asiatischen oder europäischen Immigrantenvierteln, Geschäftsstraßen mit modrigen Hochhäusern aus den fünfziger Jahren im Geflimmer der zahllosen windigen Marktstände, von denen Rauch und Musik aufsteigt. Ruhelos, auf dem Weg, ohne je irgendwo anzukommen, wandeln sich die Szenerien, ein sich ständig drehender Kreisel, ohne Hinweis auf Zuordnungen, ohne Ordnung scheinbar überhaupt, die Zukunft eine Wand, vor der das riesige Gefährt mit rasendem Motor auf der Stelle bebt.

Mein Begriff von Zerstörung war bis hierher von einer europäischen Erfahrung geprägt, von geordneten Zeitabläufen: eines Zustandes Vorher und Nachher, Zerstörung als Transformation, Verwandlung der Stadt in ein Anderes, eine Ruinenlandschaft. Aber in São Paulo gibt es nur Gegenwart, kein Vorher, kein Nachher – Zerstörung erscheint hier nicht als Begriff einer konkret eingrenzbaren Gewalt, einer Zäsur in der Geschichte, auf die Verschwinden oder Erneuerung folgte. Wenn man vom explosiven Beginn im 19. Jahrhundert absieht, als sich São Paulo zur Großstadt entwickelte, gab es hier stets nur alles gleichzeitig, in einer allumfassend gewaltsamen Komprimierung. Grundzustand der Stadt ist Zerstörung, ist Vorher und Nachher, zusammengepresst in unausweichliches Miteinander, weder Vor- noch Rückschau werden den Bauten je Bedeutung geben. Tiefgaragen können in kurzer Folge zu Kirchen und dann zu Leichenschauhäusern und danach wieder zu Tiefgaragen werden. Zahllose Investmentruinen, Hochhausrohlinge, die das gesamte Stadtbild durchziehen, illustrieren die Identität von Neubau und Ruine, Fortschritt und Abbruch, die sich leer um sich selbst drehen. Die simple äußere Anmutung dieses Stadtbildes, sein Patchwork-Charakter, der niemals Orte von Dauer erzeugt, läßt die üblichen Manifestationen der Zeit, niederschmelzen in einem kurz aufleuchtenden, illusionistischen Kern des Jetzt. Nur durch die Kernschmelze der Zeit scheint das Überleben der Maschine möglich.

II

Eine stinkende Brachfläche in der Mitte São Paulos ungefähr von der Größe des Potsdamer Platzes Anfang der neunziger Jahre, direkt nach dem Fall der Berliner Mauer. Das Gebiet nennt sich verharmlosend Parque Dom Pedro II, ein historisches Gebäude der Stadtverwaltung steht hier als Solitär umgeben von Autobahnschleifen und Durchgangsstraßen, und einer der größten Busbahnhöfe der Stadt grenzt direkt an. Ein transitorischer Ort in einer durch und durch transitorischen Stadt, der trotz seiner vermeintlichen Leere durchsetzt ist von engen Passagen und abgesteckten Terrains von Obdachlosen und Kriminellen.  Und doch ist er so etwas wie der Mittelpunkt. Dieses Leere Zentrum muss der Ort sein, an dem die Stadt zu sich selber kommt, an dem sich die Verhältnisse und Begriffe klären lassen. Der Ort, an den man auf diesem Weg vielleicht zwangsläufig kommen muss, um zu Füßen des Feldherrenhügels der Großbanken und neben der Kathedrale zu stehen, die den Kölner Dom imitiert, um von hier aus ins leere Gedächtnis der Stadt zu blicken.

In Brasilien, so sagt man, werde gern zitiert, und zudem eigne der brasilianischen Mentalität ein Hang zur Ironie. Das kilometergroße Loch neben dem Bankenhügel wirkt wie eine Ironie Hiroshimas und Nagasakis. Der Kölner Dom und die miniaturisierten New Yorker Hochhausprothesen der Bankzentralen bilden die Ränder der Leere und vereinen sich zu einem Panorama der Geschichtslosigkeit, einem Angriff auf das Gedächtnis, in dem sich das Vorbild ähnlicher Szenarien in anderen Städten des amerikanischen Kontinents, in anderen Teilen der Welt erahnen lässt.

In den dreißiger Jahren befand sich auf dem Areal des Parque Dom Pedro II eine florierende Textilindustrie. Die Fabrikarbeiter lebten nahebei in den niedrig gelegenen Vierteln Brás, Mooca oder Belém, die von Überschwemmungen heimgesucht wurden, vis á vis zu Banken und Fabriken. Als die europäischen Investoren gegen Ende des Textil-Booms das Interesse an ihren Fabriken verloren, ließ man sie verfallen und schließlich abräumen, zu einem Zeitpunkt, da die Stadt längst über die vormals sie begrenzenden Ufer getreten war, ihr einstiges Zentrum vergessen hatte.
In Brás, Mooca oder Belém, den alten Arbeiter- und Immigrantenvierteln, mit ihren durchfeuchteten Fabrikgemäuern noch im Manchester-Stil, wo die Entwicklung zum Stillstand gekommen ist, wirkt São Paulo wie etwas weit Entferntes, als läge es hinter einer horizontweiten Schwelle aus wildwuchernden Wolkenkratzern, einer Schwelle, die es selbst ist. Die Geschichte der Arbeiterquartiere, die buchstäblich im Dunstkreis des alten Gasometers liegen, haben wenige so beschrieben wie der Historiker Nicolau Sevcenko, der die Atmosphäre dieser Viertel noch einmal erahnen läßt. Seit jeher waren sie Durchgangsquartiere, die ehemaligen Brennpunkte der politischen Agitation, eines brasilianischen Proletariats und seiner Anführer von links und rechts ebenso wie der großen Banditen und der ersten brasilianischen Homosexuellenszene – sie waren zu den Hochzeiten der Industrialisierung selbst Viertel in ständiger, rasender Veränderung. Heute scheint das Leben hier erstarrt in bewohnten Ruinen, die man den Kleinverdienern und Tagelöhnern überläßt. Geld und Initiativen für Erneuerung fehlen. Hier hat, auch dies wie eine Ironie, Zerstörung ein ähnliches Gesicht wie in den alten Städten Osteuropas sozialistischer Zeiten.

III

Serge Gruzinski, der Pariser Soziologe, beschrieb in den neunziger Jahren die „Gesellschaften des Übergangs“ nach dem Fall des Kommunismus in Europa nach dem Vorbild der Städte Lateinamerikas als Sociétes Fractales: Sie entziehen sich den klaren Aufteilungen der klassischen Analysen, die Rollen sind durcheinander und ambivalent (…) In der Verwirrung der ideologischen Bezugspunkte, den Verstörtheiten des Untertanengeistes, den der Überlebenswille provoziert, zeichnet sich ein menschliches und politisches Niemandsland ab, in dem die gewohnten Aufteilungen verschwimmen.

Gruzinski greift Vilém Flussers Vision von der neuen Stadt und dem neuen Menschen, die in Megalopolen wie São Paulo Gestalt annähmen, als dystopische  und ironische Anspielung auf. Die Situation postkommunistischer Staaten  der neunziger Jahre als Fortsetzung postkolonialer Gesellschaften Lateinamerikas erscheint nach den Abschottungen des Kalten Krieges historisch verdreht. Gruzinski meint aber keinen historisch begründeten Zustand, sondern das Krebsgeschwür sozialer Verwahrlosung, das die übergangslose Implantation neuer Wirtschafts- und Sozialordnungen unter dem Deckmantel historischen Fortschritts auf ganzen Kontinenten hinterlässt. Die Komprimierung der klassischen Zeitordnung von Gründung, Entwicklung und Vergehen einer Stadt oder einer ganzen Gesellschaft bedeutet zugleich die Aufhebung all ihrer Gestaltungen, Formen und Quartiere in einem Gebilde, das seine eigene Geschichte wie ein schwarzes Loch verschluckt, im Jenseits der einstigen Idee von der universellen Polis, welche Zerstörung und Aufbau, Niedergang und Erneuerung als dialektische Zustände verkörpern sollte.

Den Überblick über São Paulo gewährt das Panorama vom alten Zentrumshügel, der für die Strategen des Kapitals einst den Feldherrensitz abgab. Das höchste Gebäude der Stadt wirbt für sein Dachrestaurant mit der obligatorischen Fernsicht, und die Häuserlandschaft, die, wie es in früheren, ehrfürchtigen Stadtbeschreibungen heißt, in Ausdehnung und Unzugänglichkeit dem Urwald des Hinterlandes gleicht, fungiert noch heute als Metapher für Trauma und schließlich erreichte Eroberung einer unzugänglichen Welt, die Eroberer und nach ihnen Gelehrte und Unternehmer hier vorfanden.

Gleichzusetzen mit der Überwindung der Straßenhölle und danteschem Aufstieg ins Paradies, den man symbolisch auf der Dachterrasse eines Wolkenkratzers mit brasilianischem Kaffee und Black Forest Cherry Cake feiert, nimmt man diese andere Zivilisation in den Blick, für ein gutes Viertel durchschnittlichen brasilianischen Arbeitermonatslohns. Aus 160 Metern Höhe verdampft das Häusermeer am Horizont unter einer erhabenen Glocke aus gelblichem Dunst und verschont den Blick mit den Details, dem ständigen Strom von Köpfen und Reifen, wie schmutziges Wasser (Loyola Brandão).

Die Gewalt der portugiesischen Eroberer, die nicht einmal mehr als Missionare, sondern von vornherein als Ausbeuter kamen, setzt sich als Übertragung noch heute im Small Talk der Fassaden fort. Hubert Fichte hat einst die Arroganz des europäischen Mitleids herausgestellt, das sich angesichts dieser „Traurigen Tropen“ einstellt – und mit der Dauer meines Aufenthalts wächst mein Vorbehalt vor mir selbst. Die Stadt, die mich mit der teilnahmslosen Lässigkeit aufnahm, mit der sie alles Fremde amalgamiert, beginnt mich zu verändern. Mit jeder Woche fällt es schwerer, das Leben in São Paulo zu begreifen: die Stadt nicht als Faszinosum, sondern in ihrer eigenen Normalität zu sehen. In den Straßen, im Verhalten der Bewohner, steckt eine verwirrende Simultaneität von Hektik und Langsamkeit. Man sieht das brutale Vorandrängen immer neuer Verkehrswellen und zugleich das regungslose Herumstehen unzähliger Passanten, die stundenlang nichts anderes zu tun scheinen als Herumzustehen. Bei genauerer Betrachtung verlaufen die Grenzen in der Stadt nicht zwischen Wohngebieten, sondern zwischen Verhaltensweisen, Tätigkeiten, Atmosphären: zwischen dem massenhaften Kleinsthandel mit Schieberware und dem Massenauftrieb der Angestellten in den Bankenvierteln oder den abgeriegelten Hochhausburgen des Reichenviertels Morumbi. Oft liegen nur Momente zwischen Herzlichkeit und Kälte, Faszination und Lächerlichkeit. São Paulo, die größte deutsche Stadt außerhalb Deutschlands, kann auch mit einer stattlichen Anzahl gepflegter Setzkastengärtchen und Gartenzwergen aufwarten.

Der unvermittelte Wechsel der Stimmungen zeigt sich besonders eindrucksvoll in der Rush Hour: Leute, die eben noch hektisch debattierten, fallen einen Augenblick später in den Sekundenschlaf auf Rolltreppen oder in den überfüllten Nahverkehrszügen, Batterien im Stehen schlafender Körper mit im Traum verdrehten Augen. An den zentralen Bahnhöfen entwickelt sich bei Ankunft eines Zuges ein infernalisches Gedränge, Momentaufnahme des brasilianischen Darwinismus im Tunneluntergrund, bei dem täglich eine Anzahl Rippenbrüche, Herzinfarkte und offene Wunden anfällt. Ignácio de Loyola Brandão hat das Szenario in den 80er Jahren sehr gegenwärtig vorgeführt, bezeichnenderweise in einem „Zukunftsroman“, der im São Paulo des Jahres 2000 spielt: Es wird geschubst, gedrängelt, geschlagen, mit Füßen getreten, geflucht, herumgefummelt. Als sei man bei einem römischen Wagenrennen. Ben Hur. Die körperlich Schwächeren meiden die Arenen der Bahnhöfe.

IV

In den langen Gängen der Metro und der Vorortbahnen herrscht während mehrerer Stunden am Morgen und Nachmittag Laufschritt, wie eine Massenflucht ohne Ziel, der niemand in die Quere kommen sollte. An den Ausgängen warten immer Krankenwagen. Doch als mir einmal die Kappe meines Filzstiftes vor die Füße der Menge fällt, macht diese unversehens Halt und wartet, bis ich sie aufgehoben habe.

Die Aufmerksamkeit verlegt sich stets auf den Augenblick, auf die Situation des Hier und Jetzt, selten nur darüber hinaus. Das Ironische der Mentalität betrifft auch die Kultur der Verabredungen. Wenig ist darauf zu geben, auch wenn ihr eine herzliche Begegnung vorausging. Ein Mechanismus der prinzipiellen Bereitschaft, sich spontan einzulassen, im spontanen Carnaval einer Augenblicksutopie von allzumenschlicher Solidarität, dazu geeignet, für kurze Zeit die Rüstungen der sozialen Stände und Herkünfte zu durchschlagen. Das Gedächtnis erinnert sich an die Rituale und Tänze beständiger Freundschafts- und Liebesbezeugungen en passant, aber kaum an die Beteiligten.

Nur das offene, spontan Sexuelle, wie es einem in Rio entgegenschlägt, erscheint hier, als ob es damit seinen Reiz noch zu erhöhen trachte, verhalten, fast wie ein Tabu.

Die Sprache ist die der Abbreviatur, Geschichten tauschen sich aus in einer gebrochenen Poesie der Konspiration, der knappen Andeutungen, Gesten und Mienenspiele, der besonderen Intonation. Es ist das Subversive der Geheimsprachen, das sich den körperschindenden, alltäglichen Zwängen des Molochs entgegensetzt, flimmernde Lücken einer fortlaufenden Korruption des Realen, verschwiegener Markt und offenes Geheimnis, eine Parallelkultur der schnellen Zeichen und Gesten, die die Anonymität zwischen den Gewalten der Stadt von Aufbau und Vernichtung überbrückt und erträglicher macht. Dennoch gilt: Du bist nie so einsam wie in der Begleitung eines Paulistas (N. Rodrigues): Wie die eitlen Fassaden und Vorgärten der besseren Viertel, so imitieren auch die Zwiesprachen lediglich das Persönliche, Eigene, Tradition und Ritual, in hybrider Alltäglichkeit, erfinden sich neu, im auf sanft gestimmten Sound dieser stets wie im Vorbeieilen singenden Sprache. Sie klingt in den Ohren nach, eine posthumane Elegie der Bits – sich selbst betrauernde Verheißung.