Noch einmal, denke ich, und alle Schemen und Träume der letzten Monate stehen vor mir; der Weg, die endlose Fahrt und die Ankunft auf einem Bahnhof, der wie im Jenseits lag; eine Stadt, auferstanden nur zu ihrer eigenen Simulation, eigefärbt von den giftigen Wolken der Erinnerung.
Ich sehe Lisa: eingekapselt, eingesponnen in die Wohnung, im Traum einer Zuflucht. Wo immer sie war, was immer sie dachte – damit wäre es jetzt vorbei. Und ich, was soll ich tun? Wer anderes wäre geeignet, sich auf die Reise zu machen?

Noch einmal vorbei an den verrottenden Engelsskulpturen, entlang der sogenannten Paradestraße, so real, wie ich es nie wieder habe sehen wollen. Es hat zu regnen begonnen, und der Regen verwandelt den Sand, der aus Baustellen links und rechts geworfen wird, in Schlick. Wieder das bleierne und wie im Fall aufgehaltene Licht über dem Boden, zwischen den alten Palazzi.
– Die schleichende Verrottung Naturgewalt! hat Bernhard gerufen, wenn wir hier entlanggingen.
Früher ist mir das anders vorgekommen.
Das langsame Vermodern war der nüchterne Naturzustand dieser Fassaden. Und Bernhard dazwischen, die lebende Wachsfigur.

Aus den engen Straßen und Gassen quillt das Nebellicht auf die verschoben wirkenden Plätze. Der Blick wird nach oben gezogen von dem an den Burgfelsen gedrückten Stadtkern. Uferanwesen auf der anderen Seite mit gleichmäßig ausgeschnittenen Freizeitgärten, brusthohe Landschaftsteiler und Laubenbögen, nach englischem Vorbild kastenartig zurechtgestutzt. Die besseren Viertel liegen jenseits der Trambahngleise und sind an ihren falschen, grauen Dächern zu erkennen.
Ich steige aus dem Taxi in den Nieselregen, der mir ins Gesicht weht, gehe über den leeren Hof, einen Bogen entlang der Begrenzungsmauer, um in die Seitenfenster zu sehen, ob eines beleuchtet ist. Es riecht nach überhaupt nichts, nach Nicht- Anwesenheit. Das ganze Haus erscheint unbewohnt.
Es wird nicht viel übrig bleiben. Drei, vier Worte, ein Satz. Während ich zu ihrer Wohnung hinaufgehe, sehe ich Lisa schon vor mir. Ich sehe ihr Gesicht, ihre Enttäuschung, ihre zitternden Pupillen, die mein Gesicht absuchen nach dem Grund meines Erscheinens. Kaum denkbar, dass sie an gute Absichten glaubt. Ich sehe ihre Unentschlossenheit, ob sie in Tränen ausbrechen oder vor Wut wie irrsinnig loslachen soll.
Die Klingel gibt keinen Ton von sich. Auf mein Klopfen hin regt sich nichts. Ich warte eine Weile, dann ziehe ich meinen Schlüssel und öffne die Tür.

Der Wohnungsflur ist dunkel und schlecht gelüftet. Etwas Licht kommt durch die Türen am anderen Ende und mit ihm das Pochen des Regens an die Fenster. An der Garderobe hängen drei leere Bügel. Es ist ein Geruch nach Bernhards Seifen, Salben und anderen Pflegemitteln, der die Wohnung erfüllt, vermischt mit einer leichten Note von Urin. Ich erkenne meinen leisen Ekel wieder, mein Körper erkennt die Umgebung. Von selbst unternimmt er die Wiederbelebung der alten Beziehung.

Ich habe keine Ahnung, wo Lisa ist. Ich richte mich darauf ein, zu warten. Doch je länger ich allein bin, desto mehr habe ich das Gefühl, etwas bewege sich um mich herum, ein Schatten, ein verhaltener Atem. Irgendwann stehle ich mich langsam vom Wohnzimmer hinüber zur Küche und schnelle im selben Moment hinter der Küchentür wieder hervor. Aber niemand ist hinter mir, nichts ist zu hören. Alles ein Spuk.
Bernhard war der Meister des Verschwindens. Jeder hat versucht, sich von Anfang an vor ihm aus der Affäre zu ziehen. und nichts sonst. Das war die menschliche Grundreaktion auf ihn und seine Erscheinung, sein Wesen. Eine Kettenreaktion, um ihn dingfest zu machen; einzukreisen mit Theorien für sein Verhalten, zu erklären, was unerklärlich erscheint und ihn so zum Verschwinden zu bringen. Man könnte meinen, er habe das immer herausgefordert.
Vielleicht hat er es tatsächlich darauf angelegt, wer weiß. Er verschwand sozusagen nach oben, aus seiner Perspektive, aus der der anderen nach unten. Es war sinnlos, mit ihm oder anderen darüber zu diskutieren. Alle, die ihn gekannt und erlebt haben, wollen ihn auf eine verblüffend ähnliche Weise erkannt und erlebt haben, jedenfalls waren sie sich immer recht einig in ihren Beschreibungen, dass er schräg, seltsam, anstrengend, unzuverlässig, hilfsbedürftig, manchmal bedrohlich sei und in jedem Fall einer Therapie bedürfe. Nur dass diese Weise der Betrachtung eben nicht Bernhards Weise ist. Bernhards Weise ist niemandes Weise.
Mit Unbeteiligten konnte ich immer am besten über ihn sprechen. Da sehe ich ihn und unser Verhältnis klarer vor mir als sonst. Dass er und ich immer schon zwei getrennten Welten angehörten. Anfangs haben wir Beweise für das Gegenteil gesucht.
Immer gibt es auch dabei das andere Gefühl, so wie man sich unvermittelt an eine Melodie erinnert, nur dieses eine berühmte Bruchstück, es kommt von weit her und kommt dir vertraut vor, und du kannst nicht aufhören, es zu wiederholen in der Hoffnung, dass irgendwann daraus wieder das ganze Stück, die ganze Melodie entsteht oder wie du sie dir vorstellst. Aufdringlich und erleichternd zugleich, so könntest du gar nicht anders, als dich dann, wenn du dich zu erinnern glaubst, wieder sicherer zu fühlen, besser als vorher.

– Lisa ist genial, hatte Bernhard einmal gesagt, irgendwann am Anfang.
– Lisa kann hellsehen.
In Gratwein oder anderswo würde einer wie Bernhard niemals eine ihm gemäße Behandlung erfahren, solange er nicht zum Schwerverbrecher geworden sei, hatte Rechberg erklärt. Eine ihm gemäße Behandlung erführe er vermutlich am ehesten an seinem Heimatort in Deutschland, wo seine Mutter lebte. Nichts wichtiger sei in seiner Situation doch für ihn als familiäre Bindungen.
Mit zeitlupenhaften Bewegungen hob Bernhard das Als mit der milchigen Flüssigkeit vom Tisch und führte es zitternd in Richtung seiner Lippen. Er zog die Flüssigkeit wie eine Zunge von außen in sich hinein. Kurz darauf verschwand die Starre aus seinem Gesicht, das hieß: jetzt ließ er mit sich reden, ließ sich bewegen von da noch dort, mit zusammengezwängten Schulten und eingesunkenem Kopf. Er konnte sich zwar kaum auf den Beinen halten, aber es ging langsam voran auf dem Weg hinab, durch das Treppenhaus auf die Straße, wo das Taxi zum Bahnhof schon wartete. Als ob in diesem Moment eine innere Selbsterhaltung zusammengebrochen wäre, sah er mich an von der schwarzledernen Mercedesrückbank aus durch die gerade noch offene Wagentür. Ich weiß nicht, ob er etwas wusste über das Ziel der Reise. Ich hielt seinem Blick stand.
– Sie haben die Verantwortung, dass er Ihnen nicht unterwegs aus dem Zug springt, sagte Rechberg mit gedämpfter Stimme zu Lisa und übergab ihr einige Ampullen, die sie auf ihrer offenen Handfläche wie abwesend betrachtete.
– Nun lassen Sie ihn doch nicht gleich alles sehen! Sorgen Sie alle zwei Stunden dafür, dass er eine bekommt. Dann wird er Ihnen keine Probleme machen …!