Ich hatte beschlossen, mich zurückzuziehen, mit wenig auszukommen, nicht mehr zu kämpfen. Ich habe mich nicht verabschiedet, von niemandem. So bin ich hierher gekommen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich vom Bahnhof der der Kreisstadt nach Kressbach kommen sollte. Am Omnibusbahnhof gab es keinen Hinweis auf eine Linie, die dorthin fuhr. Ein Taxifahrer erklärte mir schließlich, dass es auf der anderen Seite des Bahnhofs noch einen anderen Bushalt gab. Dort verkehrte tatsächlich eine Linie über Kressbach, wenn auch nur alle paar Stunden. Dem Busfahrer musste das Ziel vorher angekündigt werden, denn die entlegenen Dörfer wurden nur bei Bedarf angefahren. Auf der Fahrt stellte sich heraus, dass es bei Kressbach praktisch nie Bedarf gibt. Es lag am Ende eines kleinen, asphaltierten Feldweges, in den der Fahrer eigens auf Verlangen einbog und der nicht breiter war als der Bus selbst. Der Bus wendete dann auf einer offenen Wiese und kehrte von dort aus zurück zur Landstraße.

Der Ort entsprach dem Bild, das ich mir von ihm gemacht hatte. Insofern war ich zufrieden. Die heruntergekommenen, verlassenen Höfe schlossen sich um den alten Dorfkern, der an seinem nördlichen Ende von der aus Feldsteinen errichteten Mauer des Schlossparks, der so genannt wurde, weil sich darin das Herrenhaus des früheren Gutsherren von Kressbach befunden hat, das jedoch inzwischen ebenfalls verlassen und teilweise auch verfallen war. Insgesamt war es eindeutig, dass im alten Kressbacher Ortskern seit langem niemand seine Zukunft zu sehen schien – nur am vorderen Ende, jenseits der Landstraße, fügte sich ein Fortsatz oder Auswuchs einer kleinen Siedlung an den fast elliptischen Altort an. Dort drüben waren Einfamilienhäuser an einem regelmäßig viereckigen Raster neuer kleiner Sträßchen entlang gewachsen. Die Leute, die hier wohnten, sah man normalerweise nicht im Ort. Sie leben hier draußen wegen der guten Luft und der Ruhe, nehme ich an. Ihre Kinder kutschierten sie allmorgendlich in die Stadt. Ich habe noch nie Kinder in Kressbach gesehen, zu keiner Tageszeit, nicht am Wochenende, nicht irgendwann.

Am Ende der Dorfstraße stand ein einzelner Bau ohne jeden Ausdruck, den man auch für eine Garage halten konnte, obwohl er einer Inschrift nach aus dem 15. Jahrhundert stammen soll. Nur ein kleiner Dachreiter mit einer unter einem eisernen Baldachin aufgehängten Glocke machte sie als Kirche kenntlich. Sie bildete die Reformationsgrenze gegenüber dem Nachbardorf, dessen kleine katholische Pfarrkirche so sehr mit Heiligenbildnissen überladen ist, als habe man der Kargheit des Kressbacher Gotteshauses ein Zeichen bewusster Übertreibung entgegensetzen wollen. Die Äcker ringsum waren allesamt aufgegeben. Ein grüner Flaum hat sich über die ungefurchten Flächen gelegt. Eine kurze Reihe von vier Straßenlaternen leitete von dem provisorischen Omnibushalt zum Dorfkern, der seinerseits von zwei gusseisernen Laternen über der Straße erhellt wird. Ihr leises, windbewegtes Wimmern und das Rauschen der Gräser am Wegrand sind die einzigen Geräusche, die man hört.

Nicht lange, nachdem ich aus dem Bus gestiegen war, erschien von der Dorfmitte her ein Mann, auf dessen Statur das Attribut „vierschrötig“ (im Sinn von „vierkantig“) mustergültig zutreffen würde. Er trug eine braune Wildlederweste über seinem hell karierten Hemd, dessen oberster Knopf geöffnet war und eine leicht gerötete Halspartie freigab. Die Gläser seiner Lesebrille, die an einem Band um seinen Hals hing, warfen zwei helle, unregelmäßige Lichtflecken auf diese Stelle. In seiner Linken hielt er eine Kunststoffhülle mit den Papieren, an deren oberen Ende ein einfacher Kugelschreiber mit einem Werbeaufdruck geklemmt war. Er begrüßte mich mit einer leichten Verbeugung und sprach in geglättetem Dialekt mit mir, wie gewiss mit allen, die nicht aus der Gegend stammten und denen er immer dasselbe zu erzählen hatte. „Machen Sie sich ich in aller Ruhe mit dem Mietobjekt vertraut. Wir haben keine Eile. Mieten Sie für Ihren Sohn oder Tochter?“

Das Dorf war sein Reich; das Universum zwischen den alten Höfen und den neuen Bungalows mit den herabgelassenen Rollläden vor den Fenstern, die davon kündeten, dass hier niemand wider seinen Nachbarn zeugte.

Ich antwortete: „Ich miete für mich selbst.“ Er zog eine Augenbraue hoch, ohne nach Worten zu suchen.

Er empfand deutlich etwas Ungewohntes und setzte einen Blick auf, als hätte ich mir einen spontanen Scherz erlaubt, strich sich kurz über den kaum sichtbaren Bartansatz an seinem Kinn und schien nachzudenken. „Ei, ich weiß net. Dann könnte es eventuell ein wenig unter ihren Ansprüchen liegen. Normalerweise mieten das Studenten.“ Als ich nicht reagierte, verlor sich die Spannung seines Blickes. Er wandte sich ab und wies mir den Weg hinauf in den ersten Stock einer ehemaligen Remise. Sie gehörte zu einem aufgegebenen Hof, der nur noch als Abstellfläche für verrostetes Ackergerät diente. Während ich das Treppenhaus hinaufstieg, blieb er draußen vor der Tür und wartete. Drinnen roch es nach feuchten Wänden und Katzenurin. Die obere Etage hatte drei Zimmer und eine verwahrloste Gemeinschaftsdusche. Die Tür des angebotenen Zimmers stand als einzige offen. Ein winziger Raum, eher höher als breit, mehr eine frühere Küche: ein Tisch, ein Bett, ein Stuhl, eine alte Geschirrspüle, die so groß war, dass sich ihr Unterbau als Kleiderschrank anbot.

„Sie haben sich sicher anders vorgestellt“, sagte der Mann, der inzwischen doch heraufgekommen war und an der Tür lehnte.

„Nein“, erwiderte ich. Ich sagte nicht: Ich suche einen Ort, wo mich keiner findet und könnte mir keinen besseren vorstellen. Ich sagte stattdessen: „Ich nehme es.“ Er sah mich prüfend an. Es überraschte ihn nicht mehr, aber er brauchte trotzdem einen Moment, um diesen Vorgang in sein Geschäft einzuordnen. Er wirkte nicht erfreut, als er den Vertrag auf den Tisch legte.

„In diesem Fall“, sagte er, „brauche ich eine Mietvorauszahlung. Sie sind sich darüber im Klaren, dass es in jedem Fall eine Mindestmietdauer von drei Monaten gibt, egal wie lange Sie bleiben. Diese drei Monate zahlen Sie mir sofort, zuzüglich zu einer Kaution von einem Monat.“ Er erwartete noch immer, dass ich doch noch einen Rückzieher machte. Aber ich legte ihm ein Bündel Scheine auf den Tisch und unterzeichnete.

In den ersten Wochen bin ich kaum über die Grenzen von Kressbach hinausgekommen. Bei meinem ersten Rundgang lief ich nur mehrmals das alte Gehöft herum und betrachtete es von allen Seiten. Die Remise war noch das einzig unbeschädigte Gebäude – früher vielleicht die Scheune und Behausung für Landarbeiter, während das Haupthaus allem Anschein nach vorn an der Dorfstraße gestanden hatte. An der Stelle befindet sich heute nur noch ein Sandplatz, auf den die Autos ausweichen, wenn sie sich in der engen Ortsdurchfahrt begegnen. Die ehemaligen Stallungen sind verfallen, die Dächer halb eingestürzt und die Scheiben zerbrochen. Der untere Teil der Remise dient inzwischen als Garage. Durch die Ritzen des Tores konnte ich eine große, goldfarbene Limousine ausmachen. Sie gehört dem Vermieter. Ich habe ihn öfter dabei beobachtet, wie er das Einfahrtstor der Remise öffnet und behutsam hinausfährt, den Wagen mit leise surrendem Motor auf dem Vorplatz zurücklässt, um das Tor wieder zu schließen und dann bedächtig davonzufahren. Er ruht dabei vollkommen in sich. Er vermietet noch in anderen heruntergekommenen Höfen Zimmer an Studenten, Zimmer wie meines, zu absurden Preisen. Wer konnte je die Absicht haben, ihn dafür zu verurteilen? Wer würde sich je seinen Wuchermieten verweigern? Hier ist er das Gesetz. Es gibt keinen besseren Ort für mich. Ich bin am Ende angelangt. Ich weiß nur noch nicht, wohin mit mir und wohin mit diesem Ende. Darüber habe ich schon lange vor meinem Aufbruch nachgedacht, mitunter verkrampft, um einen Plan auszuarbeiten, ein genaues Vorgehen. Ich staune, wieviel Zeit darüber verstrichen ist, und wie lange ich in diesem Wissen immer weiter existiert habe. Ich brauche einen ersten Schritt, einen Anfang.

Bevor ich hierher gekommen bin, habe ich mich noch bemüht, mein familiäres Leben der Ordnung halber aufrechtzuerhalten. Irgendwann vergaßen sie, dass ich noch anwesend war. Sie redeten über mich wie über einen Abwesenden. Jetzt habe ich viel tote Zeit um mich, das ist einfacher als ein totes Leben.

Seitdem geht es mir besser. Es gibt mir Auftrieb. Keinen fanatischen Auftrieb vielleicht. Ich bin nicht enthusiastisch. Ich werde nicht Kopf und Kragen riskieren. Der Ort gefällt mir, das ist alles. Schon das hätte ich nicht für möglich gehalten.

Ich kenne die Enttäuschung nur zu gut, wenn etwas Angenehmes plötzlich ins Gegenteil verwandelt. Auf den ersten Blick hinterlässt vieles einen angenehmen Eindruck. Die Illusion lässt sich sogar einige Zeit aufrechterhalten. Man schätzt die Situation als sicher, nützlich und vorausschaubar ein. Dann allmählich verändert es sich. Man bemerkt es vielleicht nicht gleich, und plötzlich ist es die Hölle.

Hier ist alles ruhig und stabil. Ich musste mich nur an die Enge des Zimmers gewöhnen. Man kann sich kaum umdrehen, ohne anzustoßen. Und an die Stille, ja, auch die Stille ist überall. Am Anfang hatte ich akustische Einbildungen. Ich hörte Stimmen im Freien, wo niemand war. Oder das Surren von Überlandleitungen am Horizont. Einmal glaubte ich bei wolkenlosem Himmel das Grollen eines Gewitters zu hören, ein anderes Mal einen Krähenschwarm, der nirgendwo zu sehen war. So etwas kann immer noch passieren, aber inzwischen habe ich Erfahrung und achte nicht mehr darauf.

Eine andere Geschichte ist das mit den beiden anderen Zimmer. Die Sache gibt mir immer noch Rätsel auf. Die beiden anderen Zimmer sind jedenfalls bewohnt, das ist ziemlich sicher. Ich habe meine Nachbarn noch nie gesehen, aber gehört. Gegen Tagesanbruch sah ich einmal Licht unter der Tür des Zimmers links neben meinem. Durch die Wand drangen auch dumpfe Geräusche, und später hörte ich eine Frauenstimme. An sich ist es seltsam genug, dass ich nie jemanden die Treppe hinauf- oder hinuntergehen höre. Aber wer weiß, vielleicht kommen sie ausgerechnet in den wenigen Stunden, in denen ich schlafe. Die Stimme war anfangs sehr leise, dann energischer. Sie schwoll kurz an und beruhigte sich wieder. Die Worte kamen in Wellen, ich konnte sie aber nicht verstehen. Sie klangen zornig und schienen zwischen verschiedenen Sprachen zu wechseln, vermischt mit Schluchzen und Gelächter. Ich hörte keine andere Stimme als diese. Am nächsten Morgen war nichts mehr zu hören und seitdem nie mehr.

Beim anderen Zimmer am Ende des Ganges bin ich mir sicher. Einmal hörte ich ein Öffnen der Tür, dann ein Öffnen einer anderen Tür. Dann hörte ich das Rauschen der Dusche. Ich habe mich davon überzeugt, dass ich nicht verrückt bin. Ich bin auf den Flur getreten und habe mich vor die Duschkammer gestellt und gehört, dass dort jemand das Wasser laufen ließ. Später habe ich kleine Wasserflecken auf dem Fußboden gesehen, die zu der Tür des anderen Zimmer hinüberführten.

Zu Anfang wäre es lieber gewesen, wenn ich hier allein wäre.

Als ich diese Zeichen meiner Nachbarn vernahm, fühlte ich Enttäuschung, Bedrohung sogar. Ich hatte geglaubt, dass dieses Dorf, dieses Haus andere Mieter mit Sicherheit abschrecken würde. Jetzt fängt es an, dachte ich. Du wirst hier nicht bleiben können. Mein Körper spannte sich an, als ob er einen Schlag abwehren müsste. Inzwischen muss ich zugeben, dass ich überhaupt nichts von ihnen gehört habe und dies ein wenig bedaure. Ein wenig Abwechslung wäre vielleicht schön. Ich habe zwar ein kleines, batteriebetriebenes Radio, aber das ist nicht dasselbe wie das Wissen um eine Nachbarschaft aus Fleisch und Blut. Es muss ja nicht jeden Tag sein. Alle zwei Wochen ein wenig Geräusch, damit könnte ich mich einrichten, darauf könnte ich mich freuen. Ich habe noch keine endgültige Entscheidung getroffen, wie ich weitermache. Ich die wie jeden Tag die meiste Zeit am Tisch oder auf dem Bett, blicke aus dem Fenster auf die Hauswand gegenüber, die ich mit ausgestrecktem Arm berühren könnte, wenn ich wollte. Ich versuche zu lesen oder zu arbeiten, aber alles geht langsamer, als gedacht. Die Möglichkeiten, dem leben ein gutes und kluges und saubere Ende zu setzen, sind vielfältig. Mitunter glaube ich, den goldrichtigen Ansatzpunkt gefunden zu haben, doch einmal darüber geschlafen, und schon sehe ich die neuen Denkfehler. Manchmal macht mir die Einsamkeit zu schaffen. Wer wie ich viel denkt, den erdrückt sie fast. Bislang habe ich mir nur kleine Ausflüge gegönnt. Ich öffne die Tür und gehe hinüber zum Flurfenster, von dem aus man auf den Hof und die Dorfstraße und die Felder dahinter blicken kann, und lausche. Nachts kann man einen leuchtenden Widerschein der Stadtlichter über den Hügeln sehen, einige Kilometer weit weg. Wenn die Wolken tief hängen, verdichtet sich der Lichtschein zu einer kreisrunden Scheibe, wie eine übernatürliche Erscheinung über der schwarzen Landschaft. Man möchte darauf zugehen, mit weit geöffneten Augen, in der Hoffnung, eingesogen zu werden von dieser Kuppel aus Licht. Das wäre die allersauberste Lösung. Grandios. Aber ich beschränke meine Spaziergänge auf das Tageslicht. Ich habe Angst vor der Finsternis, vor den Tieren des Waldes. Sobald ich nachts das Fenster öffne, dringen von dort die fürchterlichsten Geräusche herüber. Das wäre wirklich das grässlichste, demütigendste aller Enden, keine Frage.

Aber inzwischen kenne ich die gesamte Umgebung. Sogar bis ins Nachbardorf bin ich gewandert. Die Menschen dort grüßen jeden Ankömmling mit Hartnäckigkeit. Ich musste mich vorsehen, nicht versehentlich unfreundlich zu werden. Es gibt nichts Fürchterlicheres als die Gesellschaft von lauter Anstandsmenschen. Man muss nur ein Brot in der Bäckerei bestellen, schon beginnen sie, einen auszufragen, zu Dorffesten einzuladen, einem den Besuch in der Ortsschenke anzudienen. Widerliche Liebedienerei. Ich lobe mir die genügsamen Kressbacher. Sie stellen keine Fragen, sie veranstalten keine Feste. Sie vermeiden jede zwanghafte Geselligkeit. Es gibt keine Dorfschenke, keine Feiern, keine Begrüßungen. Nur einen kleinen, schäbigen Kaufmannsladen, geführt von einer stummen Alten geführt, die schamhaft den Blick senkt, während man bezahlt, und erleichtert ist, wenn man den Laden verlässt.

Nach Wochen habe ich beschlossen, zum ersten Mal seit meiner Ankunft wieder in die Stadt zu fahren. Nur aus Langeweile und weil mir nichts anderes mehr einfiel. Mehr aus einer Laune heraus. Trotzdem erscheint es mir seitdem, als begänne alles neu. Beim Aufbruch war meine Bewusstsein angespannt, als zähle jeder Schritt ein Vielfaches; als widerhallte jedes auch nur entferntes Geräusch, auch das leiseste Zittern der Sträucher am Wegrand in meinem Kopf, wie eine Sprache der Dinge, die mir plötzlich etwas sagen wollte. In meinen Augen macht es keinen Sinn, in Kressbach auf den Bus zu warten. An dem Haltestellenhäuschen auf der Wiese ist zwar ein Aufkleber mit einer Servicenummer angebracht, unter der man sich für ein Sammeltaxi anmelden kann. Doch wenn man dort Anruf und seinen Standort bekanntgibt, heißt es, man warte noch auf mehr Fahrgäste. Dies könne erfahrungsgemäß ein wenig dauern. Man empfehle mir die Lektüre eine guten Buches. Nie habe ich in Kressbach bei dem kleinen Holzverschlag einen Menschen warten sehen. Selten kommt es vor, dass ein kleiner Bus plötzlich gespenstisch dort steht, wie abfahrbereit, über Stunden, doch mit ausgeschaltetem Motor, die Türen verschlossen, der Fahrer nirgends zu sehen, so als wolle er demonstrativ die Dorfbewohner zum Einsteigen herausfordern. Ich ging lieber zur Landstraße hinunter und versuchte es per Anhalter.

In die Stadt zurückzukehren, war ungewohnt und abenteuerlich. Kaum war ich ausgestiegen, war ich überzeugt, sofort wieder umkehren zu müssen. Aufgebracht lief ich zunächst viele Male um den Bahnhofsplatz herum, ohne einen klaren Gedanken zu fassen. Dort konnte ich aber nicht bleiben, ich wurde beäugt von Wartenden und von Ordnungskräften, die mir vielleicht dunkle Absichten unterstellten. Daher lief ich den Schildern in Richtung der Stadtmitte nach, versuchte mich darauf zu besinnen, weshalb ich in die Stadt gekommen war. Ich suchte einen Fixpunkt, eine Orientierungsmöglichkeit und fand ein Studentencafé an der Hauptstraße. Dort achtete niemand auf mich. Ich fand Platz an einem wackeligen Tisch und hielt mich an einem Becher Kaffee fest, bis der Raum immer leerer wurde. Die Bedienung kam und machte mich darauf aufmerksam, dass das Café schließe. Dasselbe sagte sie gegenüber zu einem anderen, der als einziger außer mir noch geblieben war. Wir bewegten uns gleichzeitig hinaus und mussten im Vorraum warten, weil die Eingangstür bereits abgeschlossen war. Der andere sah mich starr an und sagte: „So soll es sein.“ Ich verstand ihn zuerst nicht richtig. Er wiederholte es. „Auf dieselbe Weise habe ich mein Zimmer gefunden“, fügte er hinzu. „Es war nur noch dieses übrig, glaube mir. Es ist etwas Besonderes.“

„Ich habe mein Zimmer auch genau so gefunden, es war nichts mehr übrig, was ich mir hätte leisten können,“, antwortete ich. Er nahm die Ironie nicht wahr oder überhörte sie.

„Dann muss es auch etwas Besonderes sein.“

„Vielleicht ist es etwas Besonderes, mag sein. Das wissen wir beide nicht.“

„Oh, ich bin verdammt überzeugt davon, dass es etwas Besonderes ist. Du bist jedenfalls der Besonderste Typ, der mir hier je untergekommen ist.“

Ich versuchte auszuweichen, ihn abzuschütteln, aber er ließ nicht locker.

„Ich weiß, dass es etwas Besonderes ist. Darf ich wissen, wo du wohnst. Komm, sag es mir!“

„Mein Gott, von mir aus. Draußen in Kressbach.“

„Ich habe es gewusst. Es ist sehr besonders!“

Er lobte die gute Luft im Vergleich zur Stadt.

„Was soll daran besonders sein?“

„Schwer zu sagen. Es passt einfach.“

„Es passt?“

„Ja, es passt zu dir, zu allem, ich weiß auch nicht warum.“ – „Ich will auch gar nicht wissen, warum.“

„Und das Haus, wo du wohnst? Einer dieser alten kaputten Höfe, oder was? Na, das habe ich mir fast gedacht.“

„Du findest, es passt.“

„Genau. Studierst du hier etwa Literatur? Ich habe von Literatur überhaupt keine Ahnung.“

Ich antwortete, ich habe von Literatur ebenfalls keine Ahnung. „Sehr gut“, antwortete er. „Ich verstehe nicht, wie man Literatur studieren kann, ohne das ständige Gefühl, genau das Falsche zu tun. Hast du keine Freundin?“ fragte er.

„Warum willst du das alles eigentlich wissen?“

„Ach, du bist einer der wenigen interessanten Leute hier, würde ich sagen. Wohin du auch siehst, lauter Studenten in der Stadt. Studenten und Leute, die von den Studenten leben. Und alles dreht sich nur um dieses dämliche Lernen. Alle sind auf ihre idiotischen Fächer konzentriert.“

„Würde mich sehr wundern, wenn du keiner von ihnen wärst“, sagte ich.

„Von denen? Den Studenten? Oder von den andern? Oh nein, da täuscht du dich. Du täuscht dich wirklich. Okay, ich gebe zu, ich habe hier studiert, mehr als mir lieb ist. Ich habe sogar einen Abschluss in Philosophie. Aber seitdem habe ich nichts, aber auch gar nichts mit dem ganzen Betrieb hier zu tun, das kannst du mir glauben.“