Der überfüllte Bus hält an der Avenida Vinte é Três de Maio im südlichen Stadtzentrum, gleichzeitig mit mindestens sieben andern, alle hintereinander. So geht das hier ständig. Und alle fahren sofort wieder ab. Von den Wartenden, die sich dicht gedrängt an der Haltestelle die Beine in den Bauch stehen, steigt kaum einer ein. Als interessiere sich keiner dafür, von dieser merkwürdigen Insel an der zwanzigspurigen Straße wegzukommen.

Auf die andere Seite führt nur ein schmaler Betonsteg, unablässig scheint er zu zittern von den Vibrationen des anbrandenden Verkehrs. Mitten in der Woche. Frühling in São Paulo, der größten Stadt Südamerikas: Ein ruhiger Vormittag. Milchiger Himmel, in den die Sonne allmählich ein gleißendes Loch bohrt. Mit den Abgasen steigt dampfige Hitze vom Asphalt auf und der Geruch von Staub und alten Autoreifen. Die Zufahrt zum Park ist mit Betonklötzen verengt. Uniformierte lungern an einem umgebauten Container herum, der in den Farben der Polizei gestrichen ist. Tag und Nacht patrouillieren sie auf Motorrädern im und um den Park. Wegen der Diebe, sagen die einen.
Wegen des Drogen- und Schwulenstrichs, sagen andere.
Oder nur wegen der ganz normalen Besucher, die sich an den Pflanzen bedienen oder haufenweise Müll dalassen.

Es gibt nicht viele Orte in dieser Stadt, wo man sich unter freiem Himmel treffen und Zeit verbringen kann. Das typische Sao Paulo-Gefühl sind Ruhelosigkeit, Monotonie und untergründiger Schwindel. Ein Kreisel, der sich auf der Stelle dreht; ein riesiges Gefährt, das mit Vollgas vor einer Wand heißläuft.
Die Atmosphäre verändert sich an jeder Ecke, die Dritte-Welt-typische Kollage der Gegensätze: die skurrilen Wohnblocks der Reichen, mit Balkonen als Swimmingpool, Gartenzwergen in nachgebauten Fachwerkhaussiedlungen; und daneben die aus Holzlatten, Blechkanistern und Palmwedeln zusammengezimmerten Armensiedlungen, deren Bezeichnung von einer brasilianischen Kletterpflanze stammt: Favela. Geschäftsstraßen mit modrigen Wolkenkratzern im Geflimmer von illegalen Märkten unter verdreckten Plastikplanen, aus denen Rauch und Musik aufsteigen.

Ich verstehe: Ibirapuera ist kein beschaulicher Stadtpark. Es ist eine künstliche Insel inmitten des Chaos. Eine organisch geformte Welt aus exotischen Pflanzen gegen das Gewucher des Molochs.
Ich frage mich: Was ist das wahre Brasilien: Das Naturidyll im Kleinen, oder die Betonwüste drumherum?
Im Park sollte sich beides vereinen, die Armen und die Reichen, die Europäer und Afrikaner, die Mestizen und die Minderheit der Indigenen.
Es gibt Spiel- und Sportplätze, einen künstlichen See, und über eine kleine Eisenbrücke erreicht man die große Liegewiese, die Praça da Paz: den „Platz des Friedens“.

Der Platz des Friedens ist eine Oase, ein Versprechen der fünfziger Jahre an eine Stadt ohne Geschichte.

Als Brasilien sich als Land der Moderne erfand, in dem ein neuer Mensch, eine neue Kultur entstehen sollte, wie der Philosoph Vilém Flusser schrieb, war Sao Paulo die Metapher dieses Neuen: Der tänzelnde Schritt der Burschen, das weltverschlossene Lächeln, das rhythmische Klopfen auf Streichholzschachteln und mit Kochlöffeln wie auf eine Tam-Tam-Trommel; die graziöse Art, mit der Lausbuben Fußball spielen und sich balgen; die Eleganz, mit der selbst Messerstechereien in Vorstadtlokalen ausgeführt werden – all dies verleiht dem brasilianischen Alltag jene beinahe gepflegte Kultiviertheit, die so stark vom europäischen Alltag absticht.

Die Stadt aber ist nicht gewachsen, sie wuchert einfach. Mit der Freiheit des Neuen, mit Revolutionen einer neuen Ordnung konnte sie nie was anfangen. Sie selbst bestand ja nur aus der Monotonie fortwährender Umwälzungen.
Die Leute, die herkamen, trennte stets mehr, als sie verband. Abgesehen von der Freiheit von Europa, der Errungenschaft nationaler Eigenständigkeit, gab es keine Philosophie, keine Sinnstiftung – die Basis der Brasilianischen Moderne waren nicht Christentum, Marxismus, Faschismus oder irgendeine andere importierte Idee, sondern Spiel und Tanz.

Der Ibirapuera-Park ist der Park jenes neuen Brasiliens. Ein soziales Gesamtkunstwerk, errichtet aus der Pflanzenwelt des brasilianischen Hinterlandes von Roberto Burle Marx.

 

Produktion: Deutschlandradio 2015
Mitarbeit: Victor Negri

Sprecher (in diesem Ausschnitt): Christian Schmidt, Max Volkert Martens
Ton: Hermann Leppich
Regie: Ingo Kottkamp