Mathias Goeritz ist ein in Deutschland zu Unrecht vergessener Protagonist der Nachkriegsmoderne. Das könnte kaum deutlicher werden als durch die umfassende Retrospektive anlässlich seines 100. Geburtstages in Madrid. Zwar hat Goeritz als Architekt und Bildhauer in Deutschland niemals gebaut oder eine öffentliche Skulptur realisiert; nach seiner Emigration nach Mexiko 1949 hat er im übrigen eine Rückkehr offenkundig sorgsam vermieden. Aber angesichts dieser Ausstellung in der „Reina Sofia“ erweist sich das Desinteresse als institutionelle Verlängerung des Exils. Viele Karrieren der Nachkriegsmoderne wurden nach 1990 in Deutschland einer Neubewertung unterzogen. Jene von Mathias Goeritz gehört selbstverständlich ebenfalls wiederentdeckt.
Im Berlin der Weimarer Republik hat der 1915 in Danzig geborene Goeritz seine Ausbildung und im Kreis eines eher transzendental angelegten Expressionismus (Barlach, Haeckel) die ersten Schritte seiner künstlerischen Sozialisation gemacht. Das mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus aus Deutschland vertriebene Erbe der Avantgarde hat er seit den frühen vierziger Jahren gleichsam mitgenommen auf seine Reisen, zu denen er sich aufgrund seines jüdischen Familienhintergrundes gezwungen sah. Marokko, das damals unter deutschem Protektorat stand, diente ihm für einige Jahre als Fluchtort, hier lebte er als Lehrer, ehe er sich in Spanien der Malerei zuwandte und zum Mitbegründer der Schule von Altamira wurde, die sich dem künstlerischen Widerstand gegen die franquistische Kulturpolitik verschrieben hatte.
Mutmaßlich auch in Folge dieses Engagements galt Goeritz in Spanien schließlich offenbar als Kommunist. Seine Aufenthaltserlaubnis wurde nicht verlängert. Deshalb siedelte er 1949 nach Mexiko über und etablierte sich dort innerhalb weniger Jahre als abstrakter Bildhauer, Architekt, Theoretiker und vor allem als großer Kommunikator und Anstifter von interdisziplinären, kooperativen Großprojekten. Die Durchsetzung der Abstraktion war in Mexiko indes, ähnlich wie in Westdeutschland, ein bürgerliches, im Grunde konservatives Projekt. Es richtete sich gegen eine figürliche Kunst, die die politische Ikonographie der Linken bereitstellte. Goeritz‘, der aus Spanien emigrierte vermeintliche Kommunist, wurde in Mexico also ironischerweise vom konservativen Establishment gefördert und er im Gegenzug zu einer Reizfigur der mexikanischen Linken, die ihn fortan anzuschwärzen versuchte und ihn wegen seiner Lehrtätigkeit in Marokko der Kollaboration mit den Nazis verdächtigte.
Goeritz‘ politische Selbstverortung erscheint dabei weniger explizit. Aus seinem Werk, insbesondere den Arbeiten für sein „Jerusalem-Labyrinth“ in den siebziger Jahren, lässt sich herauslesen, dass ihn die Erschütterung durch die Shoah weitaus stärker umgetrieben hat als der Wunsch nach politischen Bekenntnissen. Das gilt womöglich ohnehin für das ganze Konzept der „Emotionellen Architektur“, zu deren theoretischen Urhebern er in Mexiko zählte. Dieses Konzept zielte auf die metaphysische Dynamik eines skulptural-multidisziplinären Ansatzes von performativer Räumlichkeit. Ein für die damalige Zeit nicht unbedeutender Nebeneffekt dürfte darin bestanden haben, dass Architektur damit einer konkreten politischen Zuordnung entzogen wurde. Im Grundsatz bleiben freilich seine Entwürfe zunächst offenkundig das Werk bürgerlicher „Weltkunst“.
In der Chronologie seiner Entwicklung ist zu sehen, wie Goeritz in den Entwürfen für seine vielleicht bekannteste Arbeit, die abstrakte, vielfach gezackte Großskulptur „Ataque o La Serpiente“ für das experimentell-kollaborative Museumsprojekt „El Eco“ von 1953 Motive einer erst Jahrzehnte später geläufigen Erinnerungsarchitektur vorwegzunehmen scheint. Denkt man sich etwa diese Entwürfe zusammen mit seinen nur wenige Jahre später gemeinsam mit Luis Barragán realisierten „Türmen für eine Satellitenstadt“, drängen sich unausweichlich Parallelen zu Daniel Libeskinds Entwürfen zur „Line of Fire“ (1986) und „Between the Lines“ (1989) auf, auf denen die Planung für das Jüdischen Museum in Berlin basiert. Vergleiche mit Libeskinds skulptural gedachter Architektur erscheinen um so näher zu liegen, als Goeritz das in seinem Werk stets wiederkehrende, als abstrakte Skulptur gedachte Turm- und Hausmotiv explizit für sein zwischen 1972 und 1980 entwickeltes „Jerusalem-Labyrinth“ konzipierte, also auch als Markierung eines Shoah-Gedenkortes. Schließt sich also mit dem Jüdischen Museum Berlin ein Themenkreis, der von Libeskind bislang nicht erwähnt wurde, der die jüdische Geschichte Berlins vor und nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch ebenso berührt?
In der Madrider Ausstellung wird das „Labyrinth“ völlig zu Recht als ein Schlüsselwerk nicht nur zum Verständnis der „Emotionellen Architektur“, sondern auch für Goeritz‘ Rolle innerhalb der Nachkriegsmoderne gezeigt. Das Prinzip der funktionalen Form wird zugunsten der expressiven Öffnung einer „inneren Erfahrungslandschaft“ des Betrachters aufgebrochen. Kurator Francisco Reyes Palma erwähnt zwar nicht die Parallelen zu späteren Werken von Libeskind, Dani Karavan oder Micha Ulman, dafür andere, nicht weniger offensichtliche Korrespondenzen mit Yves Klein, Lucio Fontana, Otto Piene und der ZERO-Bewegung oder auch Piero Manzoni. Sie alle scheinen von einer ähnlichen Idee getrieben, von einer Ästhetik des Unsichtbaren (oder noch nicht sichtbaren), die zwar ein uravantgardistischer Topos ist, der allerdings immer wieder auch auch etwa in Libeskinds räumlichen Erinnerungskonzepten zitiert wird (so im Motiv der „Voids“ des Jüdischen Museums).
Goeritz‘ Jerusalemer „Labyrinth“ indes geht auf seine zeichnerischen Vergegenwärtigungen der NS-Vernichtungslager und ihrer Überwachungssysteme aus der Zeit um 1945 zurück. Georitz‘ Ideal schien eine kollektive, alle Jerusalemer Religionen einende Aneignung von Erfahrung durch die emotionale Einwirkung des Erinnerungsortes zu sein. Unausweichlich erscheint dies aus heutiger Sicht erst recht als eine politische Botschaft. Immerhin, damals wurde das „Labyrinth“ wurde gebaut
In Paris wurde Goeritz ebenfalls bereits gewürdigt, wohl wegen seiner Verbindungen nach Frankreich, insbesondere zu Klein und Fontana. Seine dortigen vermeintlichen Antagonisten des Nouveau Realisme fanden sich in dicht aufeinander folgenden Ausstellungen mit ihm in der Galerie von Iris Clert wieder. Solche Offenheit schien in Deutschland lange undenkbar. Umgekehrt hat Goeritz zu seinen Lebzeiten nie wieder den Kontakt nach Deutschland gesucht. Als Grund nannte er in Briefen die Shoah. Aber mittlerweile sollten hiesige Institutionen die Idiosynkrasien der fünfziger bis siebziger Jahre eigentlich überwunden haben, zumal Archivbestände zu Goeritz in der Berliner Akademie der Künste lagern.