Mit zunehmender zeitlicher Distanz zum Ideenkern der Moderne hat sich das Verständnis temporärer Strategien innerhalb der westlich geprägten Kunst gewandelt. Im Kontext traditioneller Kunstgenres wie der Skulptur oder dem Tafelbild erscheinen sie oft als Antithese gegenüber dem bürgerlich-autonomen Kunstsubjekt, das für viele Avantgardekünstler das alte, zu überwindende Kunstsystem repräsentierte. Eine im Alltäglichen, scheinbar Rudimentären und schnell Vergänglichen angesiedelte, betont „unauratische“ Ästhetik, die sich etwa als Collagen mit Zeitungspapier oder Skulpturen aus Schrottteilen zeigte, schien geeignet, das Feld der ästhetischen Erfahrung zu öffnen und, so Peter Bürger, Raum für einen neuen, radikalen Begriff von Kunstautonomie zu schaffen, der die bürgerliche Ästhetik ablösen und so einen neuen Typ von Gesellschaft prägen würde. (1)
Nicht alle Avantgardisten bedienten sich einer Rhetorik des Temporalen, und die, die es taten, verwendeten sie auch nicht von vornherein und nicht ausschließlich. Zugleich beruhte ihre Anwendung auch nie auf bloßer Anti-Haltung. Dadaisten und Surrealisten, dem Bauhaus mit seinen Experimenten temporärer, „performativer“ Räume ein grundsätzlich gemeinsames Interesse unterstellt werden: feststehende Setzungen dessen, was Kunst sei, zurückzuweisen und stattdessen Kunst als offenes Feld der je jetzt entstehenden und beobachtbaren, durchaus auch anonym-überpersönlich gedachten Kräfte zu verstehen, die, wenn man sie nur einmal wirken ließe, das Potenzial außerordentlichen gesellschaftlicher Veränderung hätten.
Für John Cage oder Joan Jonas, Gustav Metzger oder Gordon Matta-Clark, für Piero Manzoni oder Bruce Nauman, Valie Export oder Rirkrit Tiravanija – Künstlerprotagonisten, die sich seit den fünfziger Jahren so ausdrücklich und weitreichend temporärer Strategien in ihren Werken bedient haben, erscheint ein solch unbefangener Zugang zur Temporalität in der Kunst hingegen kaum mehr möglich. Was sie noch mit der Avantgarde verbindet, ist die Zurückweisung einer feststehenden künstlerischen Agenda, einer kanonisch anerkannten Begrifflichkeit dessen, was Kunst überhaupt sei, welche Bedingungen sie zu erfüllen habe, um als solche vor dem Kanon der bürgerlichen Kunstgeschichte noch anerkannt zu werden. Das offene Feld, das Marcel Duchamp oder Max Ernst, André Breton oder Kurt Schwitters hinterlassen hatten, sollte auch für die Künstler nach dem Zweiten Weltkrieg offen bleiben. Was sie hingegen vom besagten Ideenkern der Moderne trennte, war jener anfängliche Optimismus des sozialen Auftrages, der sich hinter dem neuen künstlerischen Autonomiestreben der Avantgarden verborgen hatte und der sich mit den Aporien avantgardistischer Autonomiebegriffe, dem Erlahmen der Avantgarden selbst und dem Siegeszug reaktionärer und totalitärer Ideologien in Europa als völlig unhaltbar erwiesen hatte.
Die vielfältigen Strategien temporaler Aktionen sind nunmehr durch zwei Hauptmerkmale gekennzeichnet: Sie entziehen sich der gesellschaftlichen Rollen- oder Funktionszuschreibung für Kunst und verwahren sich so nicht zuletzt gegenüber einer „falschen Aufhebung ihrer Autonomie“. (2)
Zugleich definieren sie den Autonomiebegriff innerhalb einer demokratisch-kapitalistischen Ordnung neu, als einen experimentellen Status, um den eigenen Wirkungsraum, die eigenen Mittel von Kunst in der Gegenwart unter den gegebenen Umständen zu erforschen.
Temporalität ermöglicht dabei ortsgebundene Setzungen gleichzeitiger Präsenz und Flüchtigkeit, einen in unterschiedlichsten Ausprägungen fortgesetzten Balanceakt zwischen einer Ästhetik der Dauer und des Verschwindens, in der immer wieder auch moderne Versatzstücke, zugleich jedoch die Unverfügbarkeit für kanonische Rezeptionsmuster erreicht werden soll. Die Überführung von Kunst in Lebenspraxis, ein weiteres Ideal der modernen Avantgarden, kehrt zwar noch in Formen individueller künstlerischer Ansätze zurück, empfiehlt sich zugleich jedoch als teils offenes, teil ironisches Prinzip der Partizipation für den Betrachter, ohne dabei indes die Abgrenzung von Akteur und Publikum gänzlich aufzuheben.
Die Verwendung temporärer Strategien in der Kunst seit den 50er Jahren stellt sich somit als eine durchaus paradox anmutende Vereinigung von Widersprüchen dar. Ein Grund dafür ist auch in der historischen Vorbedingung zu suchen, dass es temporalen Strategien nach 1945 eben nicht mehr lediglich um eine radikale Negation der Kategorie der individuellen Kunstproduktion gehen konnte, wie sie Marcel Duchamp noch hatte einführen können und die natürlicherweise nicht wiederholbar war. Die Rhetorik des Temporären nach 1945 operiert mithin nicht nur an einer Negation kanonischer Kunstbegriffe, sondern an einer ständigen programmatischen Unklarheit künstlerischer Selbstverortung. Sie ist gewissermaßen das prädestinierte Medium dieser Selbstverortung und ihrer beständigen Aufhebung zugleich – einer imaginären Grenze zwischen Bewahrung und Auflösung kunstimmanenter Beurteilungskriterien, ohne dass der Verlauf dieser Grenze festlegbar wäre. Immerhin erheben jedoch viele temporale Strategien den Anspruch, einen solchen Grenzverlauf oder zumindest eine Wahrnehmung seiner Wandelbarkeit für den Betrachter erfahrbar zu machen. Gleichwohl hat sich das Temporäre offenkundig von einem Medium des Protestes zu einer Strategie fortlaufender künstlerischer Selbstreflexion entwickelt.
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(1) Bürger, Peter, Zum Problem der Autonomie der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft, in: Ders., Theorie der Avantgarde, Frankfurt/M. 1974, 67ff.
(2) „Falsche Aufhebung von Autonomie“ bezieht Peter Bürger mit Adorno auf die Wirkung kommerzieller Warenästhetik, mithin lassen sich auch die Bedingungen des Kunstmarktes selbst darunter verstehen. Vgl. Bürger, Peter, Problem der Autonomie (wie Anm. 1), 72f.