Für James Benning beginnt die Revolution weniger mit einem Spaziergang, als mit einer sehr langen Kameraeinstellung, auf die dann weitere sehr lange Kameraeinstellungen folgen: Große, weite, unbewegte, nordamerikanische Landschaften. Eisenbahnschienen durch die Einsamkeit. Irgendwann hört man einen sich nähernden Zug, der sich dann langsam ins Bild schiebt, und die Einstellung endet erst, wenn der letzte einer kilometerlangen Reihe von Waggons den Bildausschnitt wieder verlassen hat. So kann man durchaus Stunden zubringen, und vergisst darüber beinah, was man sieht, vergisst die reale Zeit und beginnt, sich dem meditativen Verweilen der Kamera anzuschließen.
James Benning vermittelt im Hamburger Kunstverein, bei seiner ersten umfassenden Retrospektive in Deutschland, vielfältige Aspekte eines kritischen Zeitbewusstseins – nicht allein als Aufforderung an den Besucher, sich ausnahmsweise Zeit für jede einzelne Arbeit zu nehmen und die Ausstellung als kontemplatives Ereignis zu begreifen. Letztlich geht es um Zeitökonomien als historisches Politikum. In den räumlich angeordneten Videoinstallationen der Eisenbahn-Panoramen bilden die endlosen Schienenwege die historische Zäsur in der Erschließung des nordamerikanischen Hinterlandes durch Landnahme, Verwüstung, Kartierung und die Verlegung der Trassen – während zugleich die Landschaft wie eine Entschleunigungsmaßnahme der globalisierten Transportwege überwölbt. Die Länge jeder Filmeinstellung orientiert sich exakt am Zeitmaß der Geschwindigkeit eines jeden Zuges. Auf der einen Seite des abgedunkelten Raumes projiziert ein 16 Millimeter-Projektor die Bilder an die Wand. Auf der gegenüberliegenden Seite sieht man Bilder in HD-Format aus einem Beamer. Zwischen der grobkörnigen analogen und der hochauflösenden digitalen Aufnahmetechnik liegt mithin auch die Distanz zweier Zeitalter des Bildes.
Die Züge sind auch nicht mehr die von Dampfloks gezogene Holzkisten aus Westernfilmen, sondern transportieren kilometerlange Reihen von Standard-Großcontainern von einem durchcomputerisierten Terminal zum nächsten. Sie sind materielle Zeugen der unsichtbaren digitalen Logistik globaler Speditionen. Zu den Geräuschen des Zuges spielt Benning dazu immer wieder auf der Tonspur den Sound der US-amerikanischen Mediengeschichte ein: die Übertragung eines Baseballspiels, einen Coca-Cola-Werbejingle, Eisenhowers Abschiedsrede, einen Mormonenchor, der ein patriotisches Lied anstimmt oder den Rap-Song „Fuck the Police“.
Die Parallele zwischen der gewaltsamen Geschichte von der Besiedlung des amerikanischen Kontinents und der Digitalisierung der Welt durchzieht James Bennings überaus vielgestaltiges Werk wie ein Leitmotiv seit den 60er-Jahren. Zeit ist ein zentraler Ansatz innerer Wahrnehmung. Die Inständigkeit, mit der er sein Publikum dazu anhält, sich für seine szenischen Installationen viel Zeit zu nehmen, erinnert durchaus auch an die Entschleunigungsstrategie eines John Cage – aber der 1942 in Milwaukee als Sohn deutscher Einwanderer geborene Benning denkt dabei kaum wie Cage an fernöstlich-spirituelle Meditation. Eher erscheint er als ein später Adept des deutschen Idealismus.
Zwei nachgebaute Waldhütten symbolisieren das in dieser Retrospektive. Die eine gehörte Henry David Thoreau, die andere Ted Kaczynski. Beide waren Zivilisationsflüchtlinge, beide zogen sich in die Einsamkeit der amerikanischen Weite zurück, um ein autonomes Leben zu führen, was immer das im einzelnen auch heißen mag. Beide gelangten zu einschlägiger Berühmtheit: Thoreau als Prophet des zivilen Ungehorsams, der im 19. und 20. Jahrhundert zahlreiche amerikanische Schriftsteller inspirierte, aber auch von Mahatma Gandhi und Martin Luther King rezipiert worden sein soll.
Der Mathematiker Ted Kaczynski wurde in den 90er-Jahren als Unabomber bekannt, nachdem er zahlreiche Menschen durch Briefbombenattentate verletzt und getötet hatte. Auch er lebte als Selbstversorger zurückgezogen in einer Waldhütte, verfasste ein Manifest über die „Industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft“, das in der New York Times und Washington Post abgedruckt wurde und heute, vor dem Hintergrund der Machenschaften der NSA, zu neuer Aktualität gelangt ist.
Bettina Steinbrügge, die Leiterin des Hamburger Kunstvereins, betont sicherheitshalber, dass diese Bezugnahme James Bennings auf den lebenslang in einem US-Hochsicherheitsgefängnis einsitzenden Unabomber nicht als Glorifizierung von Terrorismus verstanden werden sollte. Könnte ja sein, dass ein hysterisierter Feuilletonist nach Charlie Hebdo und Hamburger Morgenpost hier gleich einen neuen Aufreger wittert.
Doch der einzige Anschlag, den James Benning seit jeher in seinem ganz allein entstandenen Werk unternimmt, ist der auf die digitalisierte Zeitökonomie. Dass er sein Publikum dazu bringt, sich für seine Ausstellungen Zeit zu nehmen, erscheint mittlerweile schon revolutionär genug.