Die feuchte Luft hing als grauer Vorhang über der Wüste, jetzt, da überall die Grasbüschel sprossen. Es hörte auf zu regnen, und Gennadi hielt seinen Lada an. Ein paar Minuten standen wir da und lauschten dem Ticken des erkaltenden Motors, während sich um uns herum die Stille zusammenzog. Im Dunst zeichnete sich eine schwache Kontur ab wie eine Einbildung. Ein abstraktes Gebilde, schemenhafte Zacken inmitten einer zu allen Seiten undefinierten Ebene. Gennadi drehte erneut den Zündschlüssel, und wir rollten langsam weiter.
Zuerst sah man nur Ausschnitte einer vom Wüstensand abgeschmirgelten Metallhaut. Große Wände, rostig, rau, wie der Rumpf eines gestrandeten Schiffes. Wir fuhren näher ran, und hinter den Wänden öffneten sich Kathedralen voller Schutt und Dunkelheit. Schwer zu sagen, wie groß sie früher einmal gewesen sein mögen, denn sie fielen nach und nach auseinander, verloren sich in der Ebene, über der der Dunst eine rostrote Tönung angenommen hatte. Einige herausstechende Pfeiler in der Ferne markierten noch die Abgrenzungen des früheren Kraftwerks, sich über das ganze Gebiet ausgebreitet hatte, als Trümmerlandschaft aus verbeulten Tanklagern und Trafostationen, Ölseen und dem endlosen Gestrüpp verkrümmter Gleise, auf denen noch die ausgeweideten Kadaver von Zugmaschinen und Lastwagen lagen. An den zerplatzten Fassaden einer Hochhaussiedlung flatterten bunte Tücher, und auf den Dächern standen Leuchtreklamen im verblichenen Sowjetrot. Zwischen den Hochhausblöcken wirbelte Plastikmüll im Kreis. Es war das Jahr 2008 post Christum. Gennadi beschleunigte den Lada, als wir auf die Andeutung einer Sandstraße einbogen. Ich fragte ihn, ob hier noch Leute lebten. Er sah mich erstaunt an. Schließlich sagte er: „Achtzigtausend.“
Er warf seine Zigarette aus dem Fenster und kurbelte die Scheibe hoch, bevor wir in das Zentrum der Stadt hineinfuhren. Er fürchtete, angehalten zu werden. Aber im Gegensatz zu Tiflis gab es in Rustawi keine Polizisten mehr, es gab nicht einmal die üblichen Eckensteher. In der Mitte des zentralen Platzes stand einfach ein großer Sockel, der früher ein Lenin-Denkmal getragen hatte. Wir fuhren einige Male im Kreis drum herum, ohne uns um die Richtung zu kümmern. Über den Straßen verfilzten sich Strom- und Telefonleitungen. Die Straßenlampen brannten auch bei Tag. Der Dunst begann sich allmählich zu lichten, und darüber erschien ein zartes Gitter aus hellen Streifen, kreuz und quer über den blassblauen Himmel gezogen von den Fliegern aus Istanbul, Teheran oder Moskau und rasch aufquellend wie Teig. Ich stieg aus und kaufte Proviant in einem der Läden, die sich in den verwitterten Wohnblöcken eingenistet hatten. Kartons stapelten sich bis unter die Decke mit kyrillisch beschrifteten Konservenbüchsen neben Vorratssäcken, die noch den Stempel der Vereinten Nationen trugen. Der Ladenbesitzer holte Wasserflaschen aus einem verrosteten Kühlschrank. Er war ein dürrer, beständig zu Boden blickender Mann mit wenigen schwarzen Haarsträhnen, die sich quer über seinen sonst kahlen Schädel zogen. Er antwortete auf keine meiner Fragen und verlangte nicht einmal Bezahlung. Schließlich legte ich ihm ein paar Lari-Münzen auf den Tresen und verdrückte mich, als hätte ich ihn bestohlen.
Aber Rustawi war nicht unser eigentlich Ziel. Jemand hatte mir empfohlen, weiter zu fahren zu den Höhlenklöstern direkt an der Grenze zu Aserbaidschan. Völlig zu Recht, wie sich herausstellte, denn sobald wir die Peripherie der verfallenen Stadt hinter uns gelassen hatten, erhob sich die Silhouette einer markanten Höhenformation am Horizont. Der Wüstenwind hatte ihr ein gleichmäßige Wellenform gegeben. Je näher wir kamen, desto mehr zerfiel die Landschaft vor unseren Augen. Irgendwann vor einigen zehntausend Jahren war dieses ausgemergelte Kontinentalstück aus einem verschwundenen Meer emporgetaucht. Die Abbruchkanten rieselten, die Felsen schrumpften unter der Hitze und atmeten ihr Salz aus, und das freigelegte Sedimentgestein leuchtete rot in der Sonne wie aufgeschnittenes Fleisch. Ich sah Trümmerstücke, Fundamente von Häusern, die fast ganz im Wüstensand verschwunden waren, aber sie gehörten nirgendwo hin. Es gab keine Dörfer hier, keine Siedlungen oder Fabriken. Gennadi sagte, es handele sich um Hinterlassenschaften der Roten Armee aus der Zeit des Afghanistankrieges. Er meinte den sowjetischen Einmarsch Ende der Siebziger. Die Gegend gilt mittlerweile als heiliger Ort des neuen Georgiens. Nicht wegen der Roten Armee, klar. Aber wegen der Studenten, die damals aus Tiflis hierherzogen und protestierten, weil die Sowjetpanzer die Höhlenklöster für Schießübungen nutzen. Heute hört man, das sei der Beginn der georgischen Unabhängigkeitsbewegung gewesen, die „auch“ zum Sturz des Sowjetregimes beigetragen habe.
Wir stiegen einen der Hänge hinauf. In den Bruchkanten kristallisierten sich Blase Abdrücke von Muscheln heraus. Ich blieb stehen, sammelte einige von ihnen auf und fand dabei auch ein paar auch ein paar Rubelmünzen. Sie hatten die grünliche Farbe der Fossilien angenommen. Oben auf dem Plateau stand ein neu errichteter Ziegelbau, dem Dach und Fenster fehlten. Davon stand ein alter Nissan Pickup und weiter oben auf einem Vorsprung ein gemauerter Turm, dessen Spitze abgebrochen und als ganzes den Hang heruntergekollert war. In die Flanken des Felsens waren Mönchszellen gehauen, deren Wände mit kyrillischen Zeichen übersät waren. Die Grenze nach Aserbaidschan lief mitten durch das Gebiet. Aber nur auf meiner Karte war ihr Verlauf zu sehen. Sie ist die am besten bewachte der Welt, behauptete Gennadi und deutete zum Himmel mit einem Blick, als verfüge er über geheimes Wissen.